Als 'Ami-Liebchen‘ Kohlen klauten

■ Wie Bremer Frauen nach dem Kriegsende überlebten: Ein neues Buch im Steintor-Verlag mit vielen Fotos und Originaltönen läßt 44 Bremerinnen als Zeitzeuginnen für die späten 40er Jahre erzählen

Wußten Sie, daß die ehrenwerte Leiterin der Bremer Frauengleichstellungs-Stelle, Ursula Kerstein, vor rund 40 Jahren eine Milch-und Möhrendiebin war? Daß sich in den späten 40er Jahren nach Kriegsende Bremer Mädchen zu Tanzmusik in den amerikanischen Club im heutigen Bürgerhaus Weserterrassen schlichen, Rita-Hayworth-Frisuren trugen und sich „Ami-Liebchen“ nennen lassen mußten?

Mit dem „anderen Blick, der das Handeln von Frauen sichtbar macht“ und mit ganz viel Liebe zum Detail haben die Forscherinnen Dr. Beate Hoecker und Prof. Renate Meyer-Braun 44 bremische Frauen über die späten 40er Jahre nach Kriegsende zu Wort kommen lassen: über Feindbilder und Trümmermode, Notunterkünfte und Kohlenklau, Ausgangssperre und Arbeitsplätze. Ganz viel bremische Wirklichkeit haben die Autorinnen eingefangen, indem sie vor allem die Zeitzeuginnen selbst sprechen lassen: Prominente und Unbekannte, Flüchtlinge, aktive Nationalsozialistinnen und Verfolgte aus allen Stadtteilen Bremens. Zwischen 48 und 91 Jahre sind die Befragten heute alt, und herausgekommen sind nicht die schablonenhaften und tristen Bestätigungen für Reservearmee und Trümmerfrauen, sondern das lebendige Geschichtenbuch „Bremerinnen bewältigen die Nach

kriegszeit“ - mit einer Fülle historischer Fotos.

Zu Heroinnen sind die Befragten rückwirkend nicht mystifiziert worden. Eine Frau berichtet von ihren Tricks, französische Kriegsgefangene in die für sie verbotenen rettenden Bunker zu schmuggeln. Neben solchem Alltagswiderstand kommt aber ebenso die kleinliche Moral, auch der Rassismus der Nachkriegs-Bremerinnen, auch von Sozialde

mokratinnen, Liberalen und bei Debatten im 'Bremer Frauenausschuß‘ über die „Zumutung schwarzer Besatzung“ zur Sprache: „Nichts gegen die Besatzer, aber es gab ja sehr viele Schwarze, die geschlechtskrank waren“, resümiert eine Bremerin über die englischen und später amerikanischen Truppen.

Das Forschungsinteresse und der Blick für den konkreten Alltag ist klar weiblich: Da nimmt eine

Frau dem Bunkerwart die Schlüssel ab zu einem Schrank mit Babyaussattung. „Da bin ich frech geworden und habe zu ihm gesagt: 'Wenn das jetzt nicht der Notfall ist, wann soll er dann wohl sein? Gib mir den Schlüssel, wir räumen den Schrank jetzt aus...'“

Aufgeräumt wird nebenbei auch mit manchen Mythen, jedenfalls für Bremen: Daß die vielen erwerbstätigen Frauen massenhaft in sogenannten Männerberu

fen als Bauarbeiterin, LKWfahrerin, Kranführerin geschuftet hätten, konnten die Forscherinnen so nicht bestätigen. Außer den 44 Augenzeuginnnen-Berichten haben sie umfangreiches Material aus Behördenakten und Polizeiprotokollen, Staatsarchiv und Presse verarbeitet. Eine ganze Reihe von Tabellen gibt es im Anhang: Zahl der Verhaftungen wegen Prostitution, Bevölkerung nach Familienstand oder Wirtschaftszweig, Frauen in der Bürgerschaft... Im laufenden Text aber fließen theoretische Überlegungen und statistisches Material nur unaufdringlich und gut lesbar ein.

„Es ist verboten, Angehörige der Besatzungsmacht anzubetteln oder sich zum Geschlechtsverkehr anzubieten oder sie sonstwie in entwürdigender Weise zu belästigen“, schreibt eine Polizei verordnung aus dem Jahre 1946 vor. Mehr als um die Würde der Soldaten ging es um die Angst vor Geschlechtskrankheiten. Hunderte von Bremerinnen wurden monatlich verhaftet und im Hauptgesundheitsamt zwangsweise untersucht. Trupps von Polizistinnen griffen während der Ausgangssperre „streunende Mädchen“ auf und inhaftierten sie für drei Tage - Männer kamen mit Vorladungen davon.

Überlebens-Strategien im Nachkriegsbremen: Frauen häkelten aus aufgeribbelten Zucker

säcken Gardinen, klauten nachts Kohl und Kuhmilch, übersetzten Entnazifizierungsanträge für Kaffee, spendeten Muttermilch, wühlten die stinkenden Mülltonnen der Amerikaner durch. Arbeitsplätze in der Grohner Tauwerkfabrik, bei Hag, Brinkmann, Mende für 79 Pfennig Stundenlohn sind beschrieben: “...gar nicht so wenig, obwohl wir noch eine ganz schreckliche Lohntabelle hatten: Gelernte, Angelernte, Ungelernte und dann Frauen, so der Tarifvertrag. Wir kamen nach den Ungelernten.“

Dafür, daß bei soviel Überlebenskampf oft nur wenig Emanzipation in den Frauenbiographien übrig blieb, hatte gestern bei der Vorstellung des Buches vor JournalistInnen die Zeitzeugin und Frauenausschuß-Aktivistin Hanni Lohmann, Jahrgang 1902, eine eigene Erklärung: „Das ist eine Generationsfrage! Die alten Frauenrechtlerinnen waren ja da, aber mit dem Wirtschaftswunder ließen sich die Jungen für solche Fragen kaum mobilisieren.“

Zu Parteien und Bremer Frauenausschuß, Kampf um Verhütungsmittel und gegen § 218: Selber lesen! Susanne Paa

Am Mittwoch abend wird in der Sparkasse am Brill die gleichnamige Ausstellung mit Liedern von Ellen Koopmann eröffnet. „Bremerinnen bewältigen die Nachkriegszeit“, Steintor-Verlag, 230 Seiten, 44 Fotos, für 24,80 DM.