„Sie holen die Leute aus ihren Häusern“

In El Salvador hat die regierungsunabhängige Menschenrechtskommission im Monatsdurchschnitt fünf Verschwundene und acht Todesopfer der Sicherheitskräfte registriert / Ziel der Repression sind meist Gewerkschafter, Genossenschaftsmitglieder oder studentische Aktivisten / Auch zurückgekehrte Flüchtlinge unter Druck  ■  Aus San Salvador Ralf Leonhard

Man schrieb Samstag, den 11.Juni, als der 23jährige Manuel de Jesus Munguia auf einer rustikalen Tanzveranstaltung in der Ortschaft Colon, wenige Kilometer westlich von San Salvador, plötzlich ohne ersichtlichen Grund mit einer Machete attackiert wurde. Der Angreifer, Claudio Perez, alias „Kaltfuß“, ist bekannt als Spitzel der Nationalgarde. Während das Opfer mit stark blutenden Schnittwunden an Kopf und Arm in das nächstgelegene Spital gebracht wurde, eilte der Aggressor zum Posten der Nationalgarde, um gegen einen angeblichen Guerillero Anzeige zu erstatten. Im Operationssaal, wo Manuel Munguia der Kopf bandagiert und der linke Arm in Gips gelegt wurde, tauchten bewaffnete Agenten der Nationalgarde auf. Gleichzeitig wurden mehrere Uniformierte bei der Lebensgefährtin des Verletzten vorstellig und kündigten eine Hausdurchsuchung an. Wenn sie nicht verrate, wo die Waffen versteckt seien, „dann stirbt der Muchacho“.

Nach drei Tagen erklärte die Nationalgarde den angeblichen Guerillero für geheilt und übersiedelte ihn unter heftigem Protest der Ärzte in die Kaserne. Zu jenem Zeitpunkt hatte er einen dicken Verband um den Kopf, den einen Arm in Gips und den anderen so angeschwollen, daß er ihn kaum bewegen konnte. Die sofort herbeieilenden Eltern fanden nur noch den Leichnam ihres Sohnes vor. Die lakonische Auskunft: Er habe einem Soldaten die Waffe entrissen und sich selbst getötet.

Auf Fotos kann man das Einschußloch im Hinterkopf und die faustgroße Austrittsöffnung in der Stirn sehen. Weil es auch der Nationalgarde schwergefallen sein dürfte, zu erklären, wie der Verletzte nicht nur einem gesunden Soldaten seine Dienstwaffe entwinden, sondern sich damit auch noch durch den Hinterkopf schießen konnte, ließ sie zwei „Zeugen“ aufmarschieren: den 51jährigen Cabrera und den 66jährigen Castro, die für das richterliche Protokoll bestätigten, sie hätten das Einschußloch in der Stirn und die Austrittsöffnung im Hinterkopf gesehen ...

Selbstmord ist eine gängige Todesursache bei Gefangenen der salvadorianischen Armee und Sicherheitskräfte. Auch der 68jährige Bauer Palacios, der am 6.Mai im Departement San Miguel von einer Einheit des Bataillon Ponce verschleppt wurde, hat nach Auskunft des Truppkommandanten den Freitod gesucht. Interessanterweise berichtete die ultrarechte Tageszeitung 'Diario de Hoy‘, der Campesino sei von mutmaßlichen Terroristen getötet worden, weil er sich geweigert hätte, eine „Kriegssteuer“ für die Guerilla zu entrichten.

Um sich gegen die Attacken wegen ständiger Verletzungen der Menschenrechte zur Wehr zu setzen, gründete die Regierung schon im Januar 1983 ihre eigene Menschenrechtskommission. Deren Effizienz war jedoch von Anfang an gering. Ronald Reagan mußte sich Ende 1983 die Peinlichkeit leisten, gegen einen Beschluß des Kongresses sein Veto einzulegen, der weitere Militärhilfe an El Salvador an den Nachweis knüpfte, daß sich die Menschenrechtslage verbesserte. Vor einiger Zeit ist die Regierung Duarte zur propagandistischen Gegenoffensive übergegangen und spricht von Menschenrechtsverletzungen nur im Zusammenhang mit der Guerilla FMLN.

Grundlage der Kampagne ist eine von der Konrad-Adenauer -Stiftung erarbeitete Broschüre, die die Guerilla für praktisch alle zivilen Opfer von Tretminen verantwortlich macht. Die FMLN setzt tatsächlich in großem Umfang selbstgemachte Sprengkörper gegen die Patrouillen einer technologisch weit überlegenen Armee ein. Die Armee führt rund 40 Prozent ihrer Toten und mehr als 60 Prozent ihrer Verletzten auf Minen zurück. In der Regel wird die umwohnende Bevölkerung gewarnt. Dennoch kommt es immer wieder vor, daß Bauern sich an die Warnungen nicht halten. Die Streitkräfte der Regierung ihrerseits setzen Minen ein, ohne die Zivilbevölkerung zu warnen.

Der Ablauf ist immer noch derselbe. „Sie kommen in der Nacht, holen die Leute aus ihren Häusern, und am nächsten Tag findet man die gefolterten Leichen“, erzählt ein Mitglied der Baptistenmission. Quantitativ mögen diese Verbrechen zurückgegangen sein: „Früher waren es 50 am Tag, jetzt sind es vielleicht noch ein oder zwei.“ Doch vor allem in den armen Vororten von San Salvador werden viele Ermordete mit denselben Merkmalen aufgefunden, wie 1980, als der blanke Terror gegen Oppositionelle wütete: am Rücken zusammengeschnürte Daumen, Folterspuren, verbundene Augen. Reynaldo Blanco, der Chef der regierungsunabhängigen „Menschenrechtskommission El Salvadors“ (CDHES), macht die Sektion 2 der Sicherheitskräfte verantwortlich, dort würden die Todesschwadrone koordiniert. Die Liste der Terroropfer ist lang: Gewerkschafter, Genossenschafter, ein Aktivist der Studentenorganisation AGEUS, der von vier Kapuzenmännern verschleppt und ermordet wurde.

Allein im ersten Quartal des Jahres registirerte die CDHES 17Verschwundene und 24 Zivilisten, deren Tod der Armee oder den Sicherheitskräften zugeschrieben werden kann. Allein im Monat Mai zeigt die Statistik 14Verschwundene. „Die Gewalt nimmt seit dem Zentralamerika-Abkommen von Esquipulas deutlich zu“, sagt Reynaldo Blanco. Der Friedensplan sah die Amnestierung der politischen Gefangenen vor und veranlaßte über 4.000 salvadorianische Flüchtlinge zur Rückkehr aus Honduras.

Vor allem die Rücksiedlung der Vertriebenen in die umkämpften Gebiete von Chalatenango und Cabanas geht den Militärs gegen den Strich. Oberst Mauricio Vargas, Operationschef im Generalstab, glaubt, daß die Guerilla mit den Rückkehrern ihre „verlorene Massenbasis“ wiedergewinne („das Wasser, in dem der subversive Fisch schwimmt“). So ist es auch kein Zufall, daß die wiederbesiedelten Ortschaften nicht nur strengstens überwacht, sondern immer wieder attackiert werden. Am 6.Mai richtete das Elitebataillon Atlacatl sein Artilleriefeuer knapp neben das Dorf Las Vueltas. Wenige Tage später kam es mit einem Spitzel ins Dorf und führte eine angebliche Guerillakollaborateurin mitsamt ihren kleinen Söhnen ab. Nach Protesten der Einwohner verhängte der kommandierende Leutnant das Kriegsrecht. Am 23.März schon hatte ein Luftangriff auf das ebenfalls wiederbesiedelte Arcatao zwei Tote gefordert.

Seit jeher ist der Justizapparat ein Sorgenkind der US -Botschaft, die jene Erfolge der „Reformpolitik“ nach Washington melden würde. Selbst die Spitze des Justizministeriums, hilflos gegenüber Willkür und Korruption unter den Richtern, macht die rechtsextreme ARENA-Partei für die Aktivitäten der Todesschwadrone in der Hauptstadt verantwortlich. ARENA-Chef Aristides Cristiani, der sich nächstes Jahr um die Präsidentschaft bewirbt, will Beweise sehen. Und ARENA-Gründer Roberto d'Aubuisson, dessen Nähe zu den Todesschwadronen zu seiner Absetzung als Parteichef geführt hat, schlägt vor, die Täter doch lieber bei den Sicherheitskräften zu suchen. Und Reynaldo Blanco, sicher kein Freund von ARENA, stimmt zu. Ihm ist sogar ein Dokument zugespielt worden, in dem ein Kommandant der Nationalgarde in Zacatecoluca den Auftrag gibt, zwei Anführer der Gewerkschaft des Finanzministeriums zu überwachen „zum gegebenen Zeitpunkt gegen sie vorzugehen und sie nötigenfalls verschwinden zu lassen“.

Gewaltanwendung zur Erpressung von Geständnissen hat in El Salvador System. „Lediglich die Methoden haben sich verfeinert“, meint ein europäischer Menschenrechtsexperte hier. Und selbst Mauricio Pineda von der staatlichen Menschenrechtskommission muß zugeben, daß „gelegentlich Mißhandlungen“ festgestellt werden können. Die Sicherheitskräfte (Nationalpolizei, Nationalgarde und Finanzpolizei) unterziehen praktisch alle politischen Gefangenen endlosen Verhören unter Anwendung von Folter, bevor sie sie dem Strafvollzug übergeben. Herbert Anaya Sanabria, Reynaldo Blanco und ein weiteres Mitglied der CDHES nutzten ihren mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt 1986, um alle „Politischen“ zu interviewen. Das Ergebnis war eine minutiöse Studie über Folter in El Salvador, die von der renommierten US-Menschenrechtsorganisation „Americas Watch“ für glaubwürdig gehalten wird.

Reynaldo Blanco konnte als Gefangener der Finanzpolizei beobachten, wie der damalige Präsident der Menschenrechtskommission, Herbert Anaya Sanabria, im Beisein des Generals Golcher gefoltert wurde. „Wenn du die Arbeit in der CDHES nicht aufgibst“, soll der Chef der Finanzpolizei gesagt haben, „dann bringen wir dich um.“ Anderthalb Jahre später und acht Monate nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde Herbert Anaya im vergangenen Oktober ermordet.

Statt dem Fall, der weltweite Empörung auslöste, ernsthaft nachzugehen, präsentierte die Regierung im Januar einen Täter namens Jorge Alberto Miranda, der sich in derartig viele Widersprüche verwickelte, daß man ruhigen Gewissens vermuten darf, sein Geständnis sei unter Folter erpreßt worden. So sagte der 23jährige Student aus, er habe Herbert Anaya von vorne erschossen und sich in den folgenden Tagen zu Hause versteckt. Laut medizinischem Attest trafen die Schüsse das Opfer jedoch von hinten. Und die Direktion des Instituts, an dem der angebliche Täter studiert, bestätigte, daß Miranda in der fraglichen Woche alle Abschlußprüfungen abgelegt hat.