N I C H T S C H I C K S A L , S O N D E R N M O R D

■ W I E L A N D H E R Z F E L D E

Wir trafen uns 1915, in Wilmersdorf, an einem Sommerabend, bei Ludwig Meidner, dem Maler. In den vier- und fünfstöckigen Häusern dieses Berliner Vororts lebten Kaufleute, Ärzte, Beamte, lauter solide Bürger. Über ihnen, in den Dachstühlen, hausten wir, die Berliner Boheme. Es hatte nämlich der Einbau von Fahrstühlen den Ausbau von Ateliers, also eine rentablere Ausnutzung der Dachkammern, möglich gemacht. Sonderbarerweise benötigten damals auch Schriftsteller und Dichter Malerateliers, wenn auch nicht gerade solche mit Nordlicht. Wohnungen galten als spießig: auch waren sie zu teuer. Und hatte es nicht einen eigenen Reiz, Mond und Sterne durch das schräge Oberlicht zu erblicken? Man fühlte sich dem Kosmos näher, dem Zeitlosen, Unverrückbaren jenseits aller Menschenmacht.

Die Menschenmacht war Künstlern, besonders jungen, niemals sympathisch gewesen. Damals aber war sie uns tief verhaßt, den es war Krieg, und das bedeutete, diese Macht griff ganz besonders roh ins Dasein ein, selbst in das von uns jungen Künstlern, die sich vor 1914 um Politik kaum gekümmert und mit Widerwillen die Zeitung in die Hand genommen hatten. Nicht nur Menschenleben vernichtete der Krieg, sondern auch einmalige große Begabungen; und das erschien uns als das Furchtbarste, Franz Marc, der „Blaue Reiter“, die jungen Lyriker Georg Trakl, Ernst Stadler, Alfred Lichtenstein, die Münchner Maler Weisberger und Macke - sie waren gefallen, zerfetzt. Und den meisten von uns drohte das gleiche. Wie nannten es nicht Schicksal, sondern Mord, Verbrechen. Um was immer der Krieg geführt wurde, um Geistiges, um die Kunst gewiß nicht. Also war es bestimmt nicht unsere Sache. Der Russe Chagall, der Franzose Apollinaire - sie standen uns nahe, sie suchten und grübelten und experimentierten wie wir. Die Herren Offiziere und Oberlehrer dagegen, die Bankiers und Kommerzienräte, wenn sie auch zufällig deutsch sprachen, was gingen sie uns an? Für unsere Gedichte und Bilder hatten sie, wenn viel, Hohn und Verachtung übrig. Was gab ihnen das Recht, von uns eine freundliche Haltung, sogar Begeisterung und Opfermut zu verlangen?

Fast noch entsetzlicher aber als der Gedanke, durch vorzeitigen Tod mitsamt den ungeborenen Werken ausgelöscht zu werden oder als Krüppel durchs Leben zu schleichen, war uns die Vorstellung des Kasernenhofes, wo man Männer kastrierte, indem man ihren Eigenwillen brach. Jeder von uns hielt die Persönlichkeit, die Individualität für das höchste Glück, ihre Entwicklung und freie Entfaltung für den eigentlichen Sinn des Daseins. Schon unsere äußere Erscheinung bekundete das... Ein eigenes Gesicht, einen eigenen Lebensstil zu haben, das galt bereits als eine Art künstlerischer Leistung.

Aus den Erinnerungen von Wieland Herzfelde, der 1916 zusammen mit seinem Bruder John Heartfield die Zeitschrift 'Die neue Jugend‘ übernahm und nach dem Krieg den legendären Malik-Verlag gründete. Ausgewählt von

Michael Trabitzsch