Hör-Funken: "Sulzer besucht seine Mutter"

(„Sulzer besucht seine Mutter“, Hörspiel, 1505 - 1530, Bayern 1) Die Memoiren von Sulzers Mutter sind in Ingomar von Kieseritzkys Szenarium ziemlich schonungslos. Wenn Sulzer seinen jährlichen Routinebesuch bei ihr macht, entzündet sich rein traditionsgemäß Streit. Die 82 Jahre alte Dame macht aus ihrem Herzen weder eine Mördergrube noch aus ihrem Gedächtnis ein Archiv für Sentimentalitäten: unermüdlich hält sie dem Sohn alle seine Fehler vor, egal, ob er sie hat oder nicht. Als Schriftsteller wird er nie und nimmer Erfolg haben, das steht für sie fest, denn er denkt nicht mit dem Herzen wie sie. Verlogen und egoistisch soll Sulzer ja schon in der Wiege gewesen sein. Wenn eine Mutter auspackt, geraten sogar die Wiegen ins Schleudern.

(„Casanova und die Figurantin, Hörspiel, 2100 - 2200, NDR 1) Mehr an eine Mutterfiktion gerät Casanova, der, inzwischen zum fetten und kahlköpfigen „Ferkel“ geworden, nach 33 Jahren seiner Mutter zufällig wiederzubegnen meint, die er längst unter der Erde glaubte. Kräftig wird er von ihr inquisitiert, denn sie interessiert sich nicht für den Dichter, für den sich der Sohn selbst hält („poetisch die Kluft zwischen Leben und Kunst überwinden“, auch wenn „das Poetische nun immer schwerer“ falle etc. pp.), sondern er soll seine „Ferkeleien“ rechtfertigen. Die Mutter als bohrende Groß- & Seeleninquisitorin: Da gerät der Herr Sohn arg ins Schwitzen. Zum Glück entpuppt sich die alte Frau schließlich als abgetakelte Komödiantin einer Wanderbühne, die ihrerseits auf die Tränendrüse drückt, und so kann sich Casanova den Angstschweiß vom kahlen Schädel wischen und mit der kahlen Lebensweisheit von dannen ziehen. Es gehe im Leben nur darum, „mit einiger Kunst einen Abstieg erträglich zu machen, an dessen Ende, ganz kunstlos, der Tod steht“. Zu hören ist unter anderem Brigitte Horney.

(„Der begnadete Meier“, Kunst-Traum-Essay, 2300 - 2400, SFB 3) Der Experimentator Heinz Emigholz hat für seine SFB -Produktion, die heute zum ersten Mal ausgestrahlt wird, reihenweise Kennzeichnungen anzubieten, für ihre Form wie ihr Sujet: ein Nachtstück, eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, eine „Clonerie“ und eben den Kunst-traum-Essay. Von Gott und der Welt erfüllt sind auch die Paraphrasen des Sujets; Motto könnte etwas sein: „Jedes Jahrzehnt hat seinen eigenen Zugang zum Himmel“ oder auch: „Ich hätte auch gerne einen Körper gehabt.“ Als Thema kommt ferner in Frage der „quasi aus der Statistik herausgehobene und personalisierte Generationenvertrag“, wozu noch kommt, daß die Protagonisten „ein relativ unsentimentales Verhältnis zu ihrer eigenen Biologie“ haben, was sie „rar und einsam“ mache. Unüberhörbar wird hier tiefgebohrt, und wenn hier Metaphysik und Trivialität sowie Himmel und Erde geclont sind, dann vielleicht in einer Hör-Clowneske. Im postmodernen Supermarktzeitalter mit der anything-goes -Vorliebe gilt ganz besonders die Sommerschlußverkaufsparole: Zugreifen, so lange der Vorrat reicht.

up