Gewalt in Worten und Taten

1969 erlebte Italien einen heißen Herbst. Millionen von Arbeitern im Streik, zahlreiche Betriebe besetzt und hin und wieder mal ein Fabrikdirektor in seinem Büro oder im Klo eingesperrt. Die Radikalisierung der Arbeiter schien kein Ende zu nehmen ... Da platzte am 12.Dezember auf der Mailänder Piazza Fontana eine Bombe. 16 Tote und über hundert Verletzte blieben zurück. Wenige Stunden nach der Explosion sitzt ein Anarchist, der Eisenbahner Pino Pinelli, im Polizeikommissariat der lombardischen Metropole. Drei Tage lang wird Pinelli vom 34jährigen Polizeikommissar Luigi Calabresi pausenlos verhört, dann fällt er aus dem vierten Stock auf die Straße.

„Selbstmord“, lautet die offizielle Version. Wer etwas anderes behauptet, wie etwa die linksradikalen Mao-Spontis von „Lotta continua“, wird juristisch verfolgt. „Weshalb wurden die Kleider Pinellis sofort verbrannt, weshalb war die Ambulanz von der Polizei selbst fünf Minuten vor Pinellis Fenstersturz vor das Hauptkommissariat beordert worden?“, fragt die Witwe des Selbstgemordeten. Oder ist Pinelli - erschöpft vom Marathon-Verhör - aus dem Fenster gesprungen, nachdem ihn Calabresi mit der Veröffentlichung von aufgezeichneten Aussagen erpreßt hatte, die seine Genossen als „Kollaboration mit der Justiz“ hätten auslegen können?

Juristisch wurde der Tod Pinellis nie geklärt. Klar ist nur, daß er an dem Bombenattentat von Mailand, das unter Mitwissen von hohen Politikern und Militärs von Geheimdienstkreisen geplant und von Faschisten durchgeführt wurde, völlig unschuldig war. Hinter dem Massaker, dem eine Reihe weiterer Anschläge mit Dutzenden von Toten folgten, verbarg sich ein Komplott, das auf die Ablösung der parlamentarischen Demokratie durch eine autoritäre Präsidialdiktatur abzielte.

Polizeikommissar Calabresi - ob Mord oder Selbstmord, zweifellos schuld am Tod Pinellis - war ein Schräubchen in diesem gespenstischen Räderwerk, und Pinelli war der erste Märtyrer der Linken. Dario Fo schrieb sein Theaterstück vom „zufälligen Tod eines Anarchisten“, und auf der Straße sangen Tausende die „Ballade von Pinelli“: „An jenem Abend war es warm in Mailand/ Was für eine Hitze/ Calabresi rauchte nervös und sagte:/ 'Öffne ein bißchen das Fenster'/ Ein Stoß und Pinelli fiel/ Calabresi, ihr habt einen Genossen getötet/ Doch den Kampf habt ihr nicht gestoppt/ Die Rache wird hart sein.„

Die Rache kam zweieinhalb Jahre später: Calabresi wurde am 17.Mai 1972 vor seinem Kommissariat von drei Kugeln niedergestreckt. In linksradikalen Kreisen machte sich klammheimliche oder gar offene Freude breit, und im Editorial von 'Lotta Continua‘ hieß es tags darauf: „Gestern der Rassist Wallace, heute der Mörder Calabresi: Die Gewalt richtet sich gegen die Feinde des Proletariats, gegen die Leute, die die die Gewalt zur täglichen Praxis im Dienst der Macht erhoben haben. Der politische Mord ist nicht die entscheidende Waffe für die Emanzipation der Massen von der kapitalistischen Herrschaft, aber dies darf uns nicht dazu verleiten, die Tötung Calabresis zu bedauern. Es ist ein Akt, in dem die Ausgebeuteten ihren eigenen Willen zur Gerechtigkeit erkennen.“

Massengewalt, bewaffneter Kampf, solche Worte gingen in der Hochstimmung des Heissen Herbstes Tausenden und Abertausenden mühelos über die Lippen - lange bevor die Roten Brigaden und die „Prima Linea“, in der Teile des militanten Ordnerdienstes von „Lotta Continua“ aufgingen, den Worten Taten folgen ließen.

Bis zum Mord an Calabresi 1972 allerdings war die bewaffnete Gewalt ausschließlich vom Staat und den zahlreichen neofaschistischen Banden ausgegangen. Es waren die Jahre, in denen mitunter aus den Reihen von Polizisten auf Demonstranten geschossen wurde, in denen man in vielen Stadtteilen von Mailand und Rom die Zeitung 'Lotta Continua‘ nicht offen unter dem Arm trug, in denen unter den Augen der Carabinieri zivile Schlägertrupps linke Versammlungen sprengten, in denen der Staat seine Komplotte schmiedete wie sich erst viele Jahre später, nach den Enthüllungen über die Geheimloge P-2 offiziell bestätigte.

Ob die Ermordung Calabresis sich in diese Strategie einordnete oder ob sie authentische Rache linksradikaler Rebellen war, ist noch ungeklärt. Vielleicht wird man mehr wissen, wenn Ermittlungsrichter Antonio Lombardi, der die Verhaftung Adriano Sofris angeordnet hat, seine Akten öffnet.

Thomas Schmid