Späte Mordanklage gegen Lotta Continua

■ Adriano Sofri, in den siebziger Jahren Führer der italienischen Linksradikalen, ist verhaftet worden

Eine Verhaftung sorgte am Wochenende in Italien für Schlagzeilen, Round-Table-Gespräche und Dutzende von Interviews mit Zeitgenossen. Ein Ermittlungsrichter hatte Adriano Sofri und drei weitere Genossen von „Lotta Continua“, einer linksradikalen Studenten- und Arbeiterorganisation der 70er Jahre, festnehmen lassen. Sofri, Mitgründer und wichtigster Kopf der Gruppierung, heute Publizist, soll sich 1972 an der Ermordung des Polizeikommissars Calabresi beteiligt haben, so die Anklage.

Prominente Freunde des Verhafteten halten die Beschuldigungen für absurd. „Lotta Continua“ habe zwar Gewalt gepredigt, auch einen militanten Ordnungsdienst gehabt, aber bewaffneter Kampf oder die Ermordung politischer Gegner hätten nie zur Praxis der Organisation gehört.

Marco Boato, von 1969 bis 1976 Kampfgefährte von Sofri, heute grün-roter Senator in Rom: „Ich habe mit ihm die letzten zwanzig Jahre verbracht. Ich habe mit ihm große Wahrheiten und große Irrtümer geteilt. Er soll den Mord an Calabresi angeordnet haben? Ich weiß, daß er unschuldig ist, und ich schwöre es.“ Auch Enrico Deaglio, jahrelang Chefredakteur der Zeitung 'Lotta Continua‘, verbürgt sich für Sofri: „Wenn er schuldig wäre, dann wären es neben mir auch alle seinerzeit Verantwortlichen der Organisation.“ Boato, Deaglio und besonders Sofri haben sich radikal immer wieder mit der Gewalt innerhalb der linksradikalen Bewegung auseinandergesetzt. Eine Kritik und Selbstkritik, die nie zur Verleugnung der eigenen Geschichte geführt hat, sondern diese auch in ihrem sozialen Kontext zu erklären versuchte.

Die Beschuldigungen gegen Adriano Sofri stützen sich auf die Aussagen von Leonardo Marino, der sich zunächst einem Priester und danach den Behörden anvertraut haben soll, um sein schlechtes Gewissen loszuwerden.

Dessen Biographie könnte geradezu aus dem Bilderbuch der Fabrikkämpfe der frühen siebziger Jahre stammen: ein aus der Arbeitslosigkeit des italienischen Südens in den verheißungsvollen Norden ausgerissener junger Mann, seinerzeit kaum achtzehnjährig, zunächst Arbeit bei der Eisenbahn, nach drei Jahren Wechsel zu Fiat, just 1968, als die großen Auseinandersetzungen mit Italiens mächtigstem Industriekonzern begannen; 1971 Entlassung wegen „Absentismus“, der seinerzeit häufig praktizierten Art stummer Fabrikblockade durch Fernbleiben vom Arbeitsplatz.

Die Ausbeutung in den Fabriken, die Suche nach dem erhofften Paradies, der Anschluß an die ihn einerseits hofierenden, andererseits aber als ungebildet wiederum verachtenden Studenten - Leonardo Marino, heute 43, lernte jedenfalls bei 'Lotta Continua‘ Menschen kennen, die ihm seine Problme als gesellschaftliche und nicht individuelle Mängel erklärten. Entsprechend der Katzenjammer 1976 nach der Auflösung der Gruppe: zur Arbeitslosigkeit kam der Verlust des Identifikationsraumes.

Bis zu seiner Selbstanschuldigung vorige Woche hangelte sich Marino mit seiner Frau und zwei Kindern (die die Vornamen eben jener beiden von ihm nun als Mord-Auftraggeber angeschuldigten 'Lotta Continua'-Führer Adriano Sofri und Giorgio Pietrostefano tragen) gerade so durch, zuletzt als ambulanter Eisverkäufer. Seelische Krisen, sagte seine Frau, habe er seit 1976 immer wieder durchgemacht; doch diesmal scheint sie besonders tief gegangen zu sein: er meldete sich bei der Polizei und sagte: „Ich habe gemordet„; nach und nach habe man, so jedenfalls die Ermittler, dann herausgebracht, daß Marino am Steuer des Wagens gesessen habe, der den Mörder des Kommissars Calabresi in Sicherheit brachte. Glaubhaft? Italien hat seine bitteren Erfahrungen mit aussagewilligen Ex-Militanten - reihenweise mußten Urteile annulliert werden, weil sich herausstellte, daß allzu eifrige Fahnder den Abspringern gedroht oder Strafnachlaß versprochen hatten.

Dennoch: zwei Elemente geben selbst den Unterzeichnern eines Appells zur Freilassung Sofris zu denken: „Was zum Teufel geht im Kopf eines solchen Burschen vor“, fragt der mitunterzeichnende Schriftsteller Leonardo Sciascia, „daß er sich sechzehn Jahre nach dem Mord und ohne von irgendjemandem beschuldigt zu sein, plötzlich haltlose Behauptungen über sich und die 'Lotta Continua'-Führer von sich gibt?“

Und: Wieso schenkt ausgerechnet ein so besonnener und für seine Korrektheit bekannter Untersuchungsrichter wie Antonio Lombardi aus Mailand (er führt derzeit unerbittlich die Anklage gegen drei Minister wegen Bestechlichkeit beim Bau von Gefängnis-Hochsicherheitstrakten), Marino glauben?

Werner Raith / thos