JUGEND GEIGT FÜR OLYMPIA

■ Europäische Jugendorchester treffen ins Vielharmonische

Wer die vierundsechzig Zweiunddreißigstel im 4/4 Takt inklusive Synkopierung, Ritardando und Glissando nicht flott und präzise in 2,304 Sekunden runterfiedeln kann, muß nach einem halben Jahr sein mühsam ergeigtes, erblasenes oder erpauktes T-Shirt der streng national quotierten etwa 160 Spieler starken Europauswahlmannschaft namens European Community Youth Orchestra (ECYO) wieder ausziehen und zurück in die Regionalliga, etwa ins RIAS-Jugendorchester, gegen die man hier in Berlin, trotz des großspurigen Veranstaltungstitels „Europäisches Jugendorchestertreffen“ sorgfältig abgeschirmt ist. Den Champions unter den jährlich 4.000 Aspiranten hingegen winken Glück, Erfolg, interessante Reisen und wertvolle Sachpreise: Zweimal jährlich drei Wochen sich dirigieren lassen von Claudio Abbado oder anderen Meistern der selben Preisklasse, vielversprechende Anschlußengagements als dritter Hornist vielleicht im „Het Maastricht Matrosenorchest“, Tourneen durch Europa inklusive Westberlin mit Übernachtung im Firstclasshotel Esplanade (Minibar und Pornofilmverleih wurden allerdings sparmaßnahmenhalber mittlerweile aus dem Programm gestrichen) plus freiwilligen Stadtrundfahrten, Maßanzüge von Giorgio Armani, die weltweit beliebten Snackpakete der Lufthansa, sowie die nie versiegenden Getränkequellen der Firma Berliner Kindl (ca. eine Million DM am Sponsorenwesen wird die Kunst genesen) - vor allem aber drei Wochen freier Aus- und Probelauf in der Berliner Philharmonie und ihrer Nebengelasse von 10 bis 19 Uhr, wobei der Abend frei bleibt für Kammermusik, Extraprofilierung und Sonderkonzerte, bei denen das Tragen von Schleswig-Holstein -Festival-T-Shirts unerwünscht ist, bis daß die entzündete Sehne scheidet. Kurz: Hier lernt der junge, disziplinierte Idealist die Welt kennen, wie sie wirklich ist.

Im Zentrum des Kulturforums (Es gibt kein Kulturzentrum, es gibt nur eine Kulturperipherie, sagt der Sowjetmensch) ballen sich allerdings zur Zeit nicht nur die 160 Jungwesteuropäer auf's Völkerverbindendste, ginge es jedenfalls nach dem unumstößlichen Willen des großen Organisators und Chefenthusiasten Claudio Abbado, sondern diese treffen sich dort auch noch zum allgemeinen Unisono mit den 140 Jungmittelosteuropäern, den Österreichern, den Ungarn, den Tschechoslowaken, den Schweizern, den Jugoslawen, den Schweden, den Finnen und erstmalig auch den DDRlern des ebenfalls von Abbado gegründeten Gustav-Mahler -Jugendorchesters, um flugs auch den Eisernen Vorhang jerichomäßig niederzutrompeten, nicht ohne vorher etwa in der DDR heftig für die Spielerlaubnis der Ostmusiker auf Wackelstatus anfälligem Westterritorium getrommelt zu haben.

Zum Nutz und auf Kosten (2 Mio.) der stets gen Osten schielenden Berliner Festspiele GmbH und deren „Musiksommer“ spielen die 16-24 jährigen Gratismusiker (Kostenersparniss circa 2 Mio.) verstärkt durch den Wiener Jeunesse Chor, den Philharmonischen Chor Berlin, den Tölzer Knabenchor und die Digital Equipment Corporation unter dem Motto „Massen für Massen“ am Samstag in der Waldbühne zusammen mit schönen Stimmen (Jessy Norman) beliebte Melodien (Dritte Symphonie von Gustav Mahler). Am Sonntag stellt sich dann Altmeister Vaclav Neumann - in direkter Konkurrenz zu den Dompteuren Menuhin und Frantz am Reichstag - in der Philharmonie ans Pult und zeigt den Jungs und Mädels wo's lang geht bei Antonin Dvoraks 8. Symphonie, bei Mahlers Adagio aus der 10. und bei seinen Liedern aus „Des Knaben Wunderhorn“, bei denen Brigitte Fassbaender die Rolle der schönen Stimme übernimmt. Am Montag leitet übervater Abbado wieder persönlich die „Gurre Lieder“ von Arnold Schönberg ebenfalls in der Philharmonie, wo auch am Dienstag der frühberühmte James Judd Schostakowitsch und Brahms dirigiert.

Dann rotiert der paneuropäische Wanderzirkus weiter auf seiner „Drehscheibe zwischen Ost und West“ nach Amsterdam, Salzburg, Frankfurt und Bozen zu neuen „Begegnungen der Künstler und Künste“ mit Zelten, in denen sie in den Pausen tischtennisspielen dürfen, mit neuen Nobelherbergen und neuen interkontinentalen Nudelsalaten erfahrener Großflugküchen. Und vielleicht erübrigt sich bei der gemeinsamen Meditation über der blütenweißen dreieckigen Toastbrotschnitte die Frage, wer da gerade neben einem schmatzt, dann doch noch, bevor man aus den Orchestern ohnehin wieder rausfliegt.

Gabriele Riedle