Russische Gäste auf fauligem Grund

Glasnost in der Freudenstädter Schwarzwaldidylle / Junge SowjetbürgerInnen studieren in einer internationalen Gruppe den sterbenden Tann, und sanieren wilde Müllkippen zu Feuchtbiotopen / Workcamp des internationalen Zivildienstes SCI  ■  Aus Freudenstadt D. Willier

Fast zu üppig gedeiht hier die Typha Latifolia. Wie Froschbiß und große Rohrkolben hierhergekommen sind, kann niemand mehr sagen. Gemeiner Pastiak, Hornklee und Weidenröschen siedeln hier. Schachtelhalm und Huflattich haben ihre Wurzeln in den lehmigen Grund gebohrt, Binsen dümpeln im stehenden Wasser. Es kreuchen Bergmolch und Kreuzkröte, es fleucht die Stechmücke und die Libelle.

Das war nicht immer so am Benzinger Berg. Bis heute dient die Lehmgrube der ehemaligen Ziegelei Umweltsündern als Müllkippe und einer Autoverwertung als Schrottplatz. Vielleicht ist es ja nächstes Jahr wieder so! Heute aber steht, eine Schildmütze auf dem Kopf, die Schultern gerötet, Lena Petrova zwischen dem Röhricht im schlammigen Wasser, zerrt Autoreifen, Reste von Teppichboden und Ziegeln, Betonarmierungen aus dem fauligen Grund, fördert mit der Spitzhacke Schrotteile und verrostete Regenrinnen zutage.

Mit solcher Arbeit ist sie vertraut. In ihrer Heimatstadt Moskau saniert sie mit Kommilitonen Erholungszonen und Nationalparks, im Schnee werden Luftverschmutzungen analysiert. Lena Petrova arbeitet an einer Doktorarbeit über Ökologische Probleme in der Bundesrepublik. Eben noch hat sie mit Millukka aus Finnland und dem Holländer Charlie eine faulige Tür aus dem Morast gehoben, es wird gerufen, andere laufen dazu, die Fauna der Benzinger Lehmgrube zeigt ein rührendes Exemplar ihrer Existenz, ein grau-brauner Bergmolch kriecht durch den Schlamm. Behutsam nimmt ihn Katrin aus Heidelberg auf die Hand, das Gesicht so nah wie zum Kuß auf den Mund eines verzauberten Prinzen.

Verdammte Scheiße, brummt Helmut. Mit einer Eisensäge hatte der Tübinger Sozialpädagoge versucht, eine Betonarmierung durchzuschneiden, das Blatt war gebrochen. „Taten und Worte“, sagt er, sei die Losung der Workcamps des „Service Civil International“ (SCI). Seit fast 60 Jahren existiert der internationale Zivildienst, Projekte und Camps haben Großeinsätze wie im Spanien der 30er Jahre oder im Algerienkrieg abgelöst. 300 Camps in 48 Ländern der Erde gebe es heuer. Erstmals sind Studenten und junge AkademikerInnen aus der Sowjetunion mit dabei - in den Vereinigten Staaten, Italien und eben Freudenstadt. Ein weiteres Camp beginnt morgen in Moskau. Alternative Erfahrungen wolle man machen, und Feindbilder abbauen, an Themen wie Ökologie, Antifaschismus und Frauenselbsthilfe. Für Andris, einen Mikrobiologen aus Riga, ist es ein Kampf gegen das Mißtrauen. Verlegen lächelnd, und leicht irritiert, schaut der Freudenstädter Müllkutscher hergeschickt um den Unrat wegzuschaffen, dem exotischen Treiben im Feuchtbiotop zu.

Sechs Stunden - für heute sind die „Taten“ vollbracht. Thomas, der ZDLer, hat gleich neben dem Müll wilde Erdbeeren gefunden, Mallukka legt die Spitzhacke weg, wischt den Schweiß von der Stirn, dann stehen beide schmusend im Schlamm. Zärtlich bewerfen sich Sabine und Charlie mit großen Batzen wiederentdeckter Natur. Daria aus Polen läßt sich von einem Besucher erzählen, daß der Hausmann sei, und daß es das in Deutschland jetzt häufiger gebe. Der Benzinger Berg soll Naturschutzgebiet werden, und in Holland, sagt Charlie, gebe es schon neue Gesetze gegen die Nordseeverschmutzung. Feierabend im Feuchtbiotop!

Zwei Wochen bereits ist die Gruppe - zehn kommen aus der Sowjetunion, zwei aus Bulgarien, zwei Polinnen, Tim aus den Vereinigten Staaten, Mallukka, ein Türke, Charlie und sechs Deutsche - durch den sterbenden Schwarzwald gestreift, hat sich bei Walter Trefz, dem „wilden Jäger“ und Kniebis -Förster über saure Böden und ökologischen Umbau informiert, hat Ameisen beobachtet, und über die Organisation von Bügerinitiativen geredet, hat eine Wiese gemäht, damit dort, wie einst, Orchideen wachsen. „Mir gefällt alles“, schreibt Lena ins Camp-Tagebuch, „die Arbeit im Wald, besonders mit Ameisen, die Lieder, die Sterne - es ist wunderbar“.

Andris, der Mikrobiologe ist begeistert vom Freiburger Öko -Institut, und formuliert vorsichtige Kritik an deutschen Kläranlagen: Die sind gepflegt, aber das Wasser, das hinten herauskommt, könnte sauberer sein. Kritik am Camp selbst gibt es wenig - zuviel Programm vielleicht, nur Daria, die Polin, empfindet das tägliche Arbeitspensum streng wie im „Lager“. „Ich, die Pessimistische, mit der Weltuntergangsstimmung, bekomme hier Hoffnung, Wärme, Liebe und Interesse an Anderen“, schreibt Antje ins Tagebuch. „Frieden, auch mit der Natur“ nennt es der Öko-Förster vom Kniebis. Andere waren hier, das Camp heuer ist schon das vierte, der Kontakt ist geblieben, Wassily aus Griechenland schlägt sich in seiner Heimat gegen Pestizide, und Susanna aus Parma hat einen Förster geheiratet.

„It's great here“, sagt der 24jährige Tim aus Vermont und entzieht sich der Tanzlust einer Polin, redet wehmütig über seine bevorstehende Heimkehr, daß die Obstplantagen seiner Eltern in der Abluft eines Chemiewerkes eingehen, er keinen Job und kein Geld zum Studieren hat.

Auch anderen ist ein wenig bang vor dem Abschied aus dem Freudenstädter Jugendzentrum, - am Bahnhof gleich hinter dem „östlichen Bollwerk“.

Noch gehen die Gespräche bis tief in die Nacht, Kontakte, Austausch und Freundschaften sollen bleiben, Mallukka sitzt ein wenig abseits, und denkt über ihre eigene Zukunft nach. Sie hat Angst bekommen, als sie die sterbenden Bäume sah, fühlt sich hilflos und klein, auch in Finnland sind Seen verdreckt und Rentiere kontaminiert. Ihren Job als Sekretärin will sie aufgeben und studieren, vielleicht in der Bundesrepublik.

Den Touristen der Schwarzwaldidylle Freudenstadt gelingt es kaum, zwischen ihrer grimmigen Hatz von der Schwarzwälder Kirschtorte zum Kirschwasser und zurück zum Schwarzwälder Speck dem schmeichelhaft guten Eindruck der sowjetischen Delegation zu entsprechen. Aber sie werden ja auch nicht dabei sein, zum Gegenbesuch in Moskau, und Diskussionen dort, zum Beispiel über den Wert eines Moskauer Disneylands zur Naturerfahrung für Kinder. Selbstbetrug sei das, sagt der Kniebis-Förster, über die reparierbare Kunstwelt „Kinder müssen einmal in einer Schafherde gestanden, und danach gestunken haben!“