Belleville zur Stunde des Freitagsgebets

Eine „islamische Straße“ im Pariser Immigrantenviertel / Die Moschee ist in einer alten Fabrik / Arabische Geschäfte bieten ihre Waren an / Hohe Arbeitslosigkeit unter den Immigranten / Die Vereinigung „Praxis und Glauben“ propagiert die Rückkehr zu den Geboten des Koran, hat jedoch keinen politischen Anspruch  ■  Aus Paris Beate Seel

Am Ausgang der Metro-Station Couronnes ein bärtiger Herr in weißem, bis zu den Füßen reichenden Gewand nebst Turban, der um Spenden für die islamische Organisation „Glauben und Praxis“ bittet. Drumherum ein einziges Drängen und Schieben. Araber, Franzosen, Afrikanerinnen in bunt bedruckten Stoffen, Asiaten, orthodoxe Juden. Es ist Freitag mittag, Markt auf dem Boulevard de Belleville. Das Angebot reicht von Plastikschüsseln und Glitzerstoffen bis zu Obst und Gemüse. Der Duft frischer Minze, frischen Thymians, aufgeschnittener Honigmelonen liegt in der Luft, konkurriert mit dem würzigen Geruch von Coriander, Cardamon, Curry, Curuma, Cumin. Rufe der Händler, in Französisch oder Arabisch, gellen wild durcheinander.

Ein wenig abseits vom geschäftigen Gewühl liegt die Rue Jean-Pierre-Timbaud, eine ganz normale Straße. Fünf- bis sechsstöckige Höuser, vereinzelt neuere Wohnblocks, aber bislang verschont von den Bulldozern, die sich seit Jahren Stück für Stück mit Brachialgewalt durch Belleville fressen. Das Straßenschild weist den Gewerkschafter J.P. Timbaud (1904-1941) als „Märtyrer der Resistance“ aus. Was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ein Teil der Straße, die heute seinen Namen trägt, nicht länger Hochburg der Kommunistischen Partei oder ihrer Gewerkschaft CGT ist, sondern Zentrum der islamischen Vereinigung „Glauben und Praxis“, des französischen Ablegers der in den zwanziger Jahren in Indien gegründeten, stark missionarisch ausgerichteten integristischen Organisation „Jama at al tabligh“?

An die zwanzig islamische Geschäfte haben sich hier zwischen der Metro-Station und der Omar-Moschee angesiedelt, die Magen und Geist der Gläubigen versorgen: Metzgereien und Buchläden, aber auch ein Gemüsegeschäft, ein Import-Export -Laden, das Restaurant Al Salam, meist mit weißbekleideten bärtigen Herren hinter dem Verkaufstresen. Dazwischen eine französische Apotheke, die saisonüblichen biologischen und homöopathischen Bräunungsmittel in der Auslage, eine Gruppe von Frauen, die mit ihren Hunden vor einer kleinen Tierklinik Schlange steht, und eine alte, verräucherte Kneipe, die wie ein Überbleibsel aus den dreißiger Jahren wirkt. „Holz, Kohlen, Heizöl“ ist da in verblaßter Schrift noch zu lesen.

Im Buchladen Dar al Azhar ist man freudlich und entgegenkommend. In einem Büchlein mit dem Titel „Islam, Frau und Integrismus - Tagebuch einer jungen Europäerin“ wird unter anderem der rechte Glauben als Heilmittel gegen Aids empfohlen. Ob ich mich für den Islam interessiere, fragt der Verkäufer. Ob ich vielleicht eine einführende Schrift möchte? Oder lieber etwas über ein spezielles Thema, z.B. die Bedeutung des Fastens oder der Pilgerfahrt? Das ist allerdings eher etwas für bereits zum Islam Konvertierte. Nein, danke. Schließlich kann der zuvorkommende Herr ja nicht ahnen, daß ich meinen Koran bereits zu Hause im Regal stehen habe. Während wir noch plaudern, schallt aus dem Lautsprecher der Moschee der Ruf zum Freitagsgebet. Der Buchhändler schräg gegenüber schließt gerade seinen Laden ab, um seiner religiösen Pflicht nachzukommen.

Die Moschee ist in einem ehemaligen Fabrikgebäude untergebracht. Fensterläden und Gitterstäbe sind grün angemalt. Ein kleiner Vorplatz hinter einer Säulenreihe bildet den Eingang. Die Männer, die nach und nach eintröpfeln und ihre Schuhe ausziehen, Araber, Schwarzafrikaner, mögen in ihrer Mehrzahl zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt sein. Es wäre verfehlt, im Aufschwung von „Glauben und Praxis“ eine politisch verstandene Reislamisierung der jüngeren Immigrantengeneration zu sehen. Die Vereinigung ist zwar integristisch, strebt also die strikte Einhaltung der Gebote des Koran an, ist jedoch völlig apolitisch. So ist beim Gang durch die Straße auch kein einziges Khomeini-Poster zu entdecken. Vermutlich ist es eher die mittlere Generation, die sich von den in einfachen Worten dargelegten Prinzipien der Organisation angesprochen fühlt, nachdem sie den Traum von der Rückkehr in die Heimat aufgeben mußte.

In der Kneipe eine Staßenecke weiter schlürfen unterdessen Immigranten aus dem Maghreb friedlich ihr Bierchen. Das Gespräch dreht sich um die Tour de France, die Wahlen und, immer wieder, um Le Pen. „Zuerst, als er bei den Präsidentschaftswahlen so viele Stimmen bekommen hat, bin ich abends weniger ausgegangen. Wenigstens nicht alleine. Sicherheitshalber“, meint Mahmoud, Marokkaner, 20, gerade wieder einmal arbeitslos. Nein, in seinem Bekanntenkreis habe er nie etwas von Überfällen der Rechtsextremisten gehört. Ja, was „Glauben und Praxis“ betreffe, habe er schon erlebt, daß die weißgekleideten Herren in die Bistros gehen und Alkohol trinkende Gäste ansprechen. „Aber nicht aggressiv“, fügt er hinzu. Seine Probleme seien andere, sagt Mahmoud, er wolle wieder einen festen Areitsplatz finden, in der französischen Gesellschaft akzeptiert werden. „Dafür haben die Integristen keine Lösung anzubieten. Da gehe ich lieber auf eine Demonstration von SOS Racisme.“