„Weiterleben, um zu sterben oder um zu leben!“

■ Rolando Cartagena Cordova, einer der chilenischen Todeskandidaten, lebt seit sechs Jahren unter dem Damoklesschwert des Todes / „Ich habe nicht aufgehört, mich nach einem Leben in Freiheit zu sehnen“

Noch immer müssen mindestens zwölf chilenische Oppositionelle mit der Todesstrafe rechnen. In dieser Woche wurden vom Militärgericht drei Todesurteile in lebenslange Haft umgewandelt. Was Haft für politische Gefangene in einem chilenischen Gefängnis bedeutet, schilderte der taz Rolando Cartenga Cordova, einer der zwölf Todeskandidaten.

taz: Wenn die zweite Instanz, der Corte Marcial, dein Todesurteil nicht bestätigt, sondern in lebenslange Haft umwandelt, wie das schon bei Carlos Garcia geschehen ist, welche Konsequenzen hätte das für die Asylgewährung?

Rolando Cartagena Cordova: Wir haben keine Ahnung. Es gibt immer Gerüchte, es kommen „Informationen“ von da und von dort, daß in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten dies und das passiert. Am Ende passiert überhaupt nichts. So ist es immer. Das ist eine nicht zu beschreibende Ungewißheit, die ich meinem schlimmsten Feind nicht wünsche. Es ist wie eine eiserne Klaue, die dich an den Schultern packt und nicht mehr losläßt, manchmal mehr, manchmal weniger, der Schmerz hört nie auf. Was das abgeänderte Urteil von Carlos Garcia betrifft, darf dies nicht heißen, daß er nun von der Bundesregierung nicht mehr beachtet wird. Das würde bedeuten, ihn dem heimlichen, langsamen Tod auszusetzen. Die langen Jahre im Gefängnis haben uns gezeigt, daß der Tod viele Gesichter hat. Es bleibt eine Herausforderung an die internationale Solidarität, den Tod in seinen verschiedenen Formen zu verhindern. Eine Aufforderung an das deutsche Volk, den Kampf um das politische Asyl wiederaufzugreifen. Eine Umwandlung der Todesstrafe in lebenslängliche Haft ist keine Garantie für das Überleben, keiner von uns ist gegen ein Attentat auf unser Leben gefeit.

Kannst du die Lage der politischen Gefangenen einmal genauer schildern, auch die Situation der zum Tode Verurteilten.

Ganz allgemein gesagt ist die Lage schlechter als in früheren Jahren. Sämtliche politischen Gefangenen sind von Geheimdienst und Polizei grausam gefoltert worden, und zwar mit einer Kombination aus physischen und psychischen Druckmitteln. Die gegenwärtige Justiz wendet die willkürliche und antidemokratische Gesetzgebung strikt an, die jegliche Grundrechte des Menschen ausschließt. Wir haben es mit einer eindeutig politischen Gesetzgebung zu tun. Die Gerichte stellen die gegenwärtige politische und militärische Macht dar und verfolgen Oppositionelle, um das Fortbestehen des Militärregimes zu garantieren.

Das Regime hat im übrigen nicht die geringste Absicht, politische Gefangene auf juristischem Weg freizulassen, sei es durch Straferlaß oder Amnestie. Im Gegenteil: wir sehen uns mit Brutalität und Sadismus konfrontiert, der Entwicklung eines Terrorklimas in den Gefängnissen des Landes und Repressalien gegenüber unseren Angehörigen. All dies hat uns in einen Zustand der Ungewißheit, Unsicherheit und Hilflosigkeit versetzt, und nur die Hilfe unserer Angehörigen, des chilenischen Volkes und die internationale Solidarität hat uns vor einer gefährlichen Hoffnungslosigkeit bewahrt. Ich persönlich schleppe seit mehr als sechs Jahren das Dilemma mit mir herum: weiterleben, um zu sterben oder weiterleben, um zu leben. Um meiner menschlichen Würde gerecht zu werden, habe ich dem Leben den Vorzug gegeben, will weiterleben, um zu leben. Ich habe nicht aufgehört, mich nach einem Leben in Freiheit zu sehnen, meine Familie zu lieben und zur demokratischen Entwicklung und dem Frieden in der Welt beizutragen.

Würdest du ein Asylangebot annehmen und wieder in die Bundesrepublik, wo du schon einmal exiliert warst, zurückkehren?

Ich habe Menschen im Gefängnis leiden und sterben sehen, habe selbst einmal beinahe das Leben verloren, als der Geheimdienst uns vom Dach des Gefängnisses aus beschossen hat. Ich habe um Genossen geweint, die im Gefängnis ermordet wurden. Ich mußte mit Leuten zusammenleben, die andere soziale Werte hatten, unvereinbar mit denen eines politischen Gefangenen. Ich muß seit Jahren getrennt von meiner Familie leben, eingesperrt auf ungewisse Zeit... Ich mußte... wozu soll ich die erlittene Folter während der Verhaftung noch einmal wiederholen... ja, ohne Zweifel akzeptiere ich den Weg ins Exil als ersten Schritt ins Leben und in die Freiheit.

Möchtest du dich noch zu irgendetwas äußern, was dir wichtig ist?

Ich möchte noch einmal meine Dankbarkeit und Bewunderung für alle Bemühungen um die Wiederherstellung der Demokratie und Menschenrechte in Chile ausdrücken. Für jeden Einsatz, das Leben von Männern und Frauen zu retten, die nichts anderes getan haben, als gegen eine Tyrannei zu rebellieren. Ich möchte noch einmal appellieren an alle Menschen mit tiefer politischer oder religiöser Überzeugung, sich für eine sofortige Asylgewährung für uns einzusetzen. Ich möchte außerdem meinen Dank aussprechen der taz und allen anderen Medien, die im vergangenen Jahr einen Teil meines offenen Briefs veröffentlicht haben. Und ich möchte einen brüderlichen Gruß an die Stadt senden, die meine zweite Heimat ist: Göttingen. Verbunden mit der Überzeugung, daß Leben und Freiheit über Tod und Gefängnis siegen werden und im Vertrauen in die Menschlichkeit.

Das Interview führte die deutsch-chilenische Journalistin Ela W. Rojas