Fernsucht und Sehnweh

■ Der australische Künstler Hanns Rataj ist von Metropolen und von dem Wunsch, fliegen zu können, gleichermaßen beseelt. Seine Bilder sind in der Galerie Steinbrecher zu sehen

Seit 28 Jahren lebt der 1924 in Schlesien geborene Maler Hanns Rataj in Süd-Australien. Wenn er seinen Wohnort beschreibt, provoziert er damit unweigerlich Fernweh und Sehnsucht nach so viel unberührter Natur: Nur hundert Meter von Meer entfernt steht sein Bungalow, umgeben von üppiger Vegetation, bunten Vögeln und viel, viel Landschaft. Bis zur Millionenstadt Adelaide sind es fünfzig Kilometer, die Maler -Idylle bleibt davon unberührt. Weil ihn aber Metropolen, Paris etwa oder New York, faszinieren, ist die Stadt allgegenwärtig in Ratajs Bildern. Ihre Hausungetüme und Brückengiganten, ihre Straßenschluchten und Autoschlangen werden darin zu Kulissen für Geschichten und Augenblicke, in denen sich alte Mythologien und modernes Zeitempfinden begegnen, um von ewigen Menschheitsträumen zu berichten. In der Galerie Steinbrecher sind jetzt rund fünfzig Arbeiten Ratajs zu sehen.

Fliegenkönnen wie ein Vogel - uralte Sehnsucht des Menschen, die sich in unserem jahrhundert technisch perfekt und ausgerüstet mit allen Risiken dieser Perfektion erfüllte. Weil er vom Fliegen und von Menschen, die sich in eine Idee „verbeißen“, gleichermaßen beeindruckt ist, schuf Rataj seit 1982 drei „Lilienthal„-Serien. Die Figur des Ingenieurs und Flugpioniers Otto Li

lienthal wich im Laufe der Arbeit immer häufiger seiner Art „Vor-Träumer“: Dem griechischen Sagen-Helden Ikarus, dessen Traum vom Fliegen unter der Sonne dahinschmolz, begleitet von Dädalus, Minotaurus und Ariadne. Mit ihnen inszeniert Rataj atmosphärische Szenen, in denen die tiefe Sehnsucht nach Unabhängigkeit, nach Sprengung aller natur-und menschengemachten Grenzen und Gesetze ebenso deutlich wird wie die Bedrohung, die die Erfüllung solcher Träume mit sich bringen kann. Dabei irritiert der Maler zunächst mit leuchtenden Farben und einem feingliedrigen Zeichenstil, was an Bilderbuchillustrationen erinnert. Doch hinter der freundlichen Oberfläche wird schnell die Düsternis sichtbar. Hinweise auf Machtwillen, Obrigkeitsdenken und Neo -Faschismus machen aus den Phantasiegestalten sehr präsente menschliche Wesen. Als stille und genaue Beobachter sind in fast jedem Blatt Vögel dabei. Immer wieder dieses unheimliche Federvieh mit den blinkenden Augen, die alles zu sehen, alles vorher-zu-sehen scheinen.

Vögel finden sich auch in seinen jüngsten Arbeiten, den „Tapentenbildern“. Es ist verblüffend, zu welcher Plastizität die Tusche auf dem Tapeten-Untergrund gerinnt, und es ist noch erstaunlicher, daß die stille Einfalt der Blümchen- und Ornamentik

prägung weder den Bildinhalten noch der meisterlichen Malweise schadet. Ab und an gibt es ironische Kritik: Im Blatt „Royal Performance“ nimmt er die Neigung seiner australischen Landsleute aufs Korn, die das englische Königshaus und auch das Soldatentum allzu sehr verherrlichen. Im übrigen wird Australien höchstens indirekt durch die Verwendung leuchtender Farben und hellen Lichts sichtbar.

Bei allem poetischen Charme, den die kleinformatigen Bilderzählungen ausstrahlen, kommt die ganze in ihnen angedeutete Kraft erst auf einem einzigen Tuch zur vollen Entfaltung: ganz großzügig und locker, mit ausholender Gestik malte Rataj noch wenige Stunden vor der Vernissage auf metergroßem Nessel einen bunten Lilienthal über den Häusern am Dobben.

Nach dem zweiten Weltkrieg, als Flüchtling in Essen gestrandet, wollte Rataj fort aus Deutschland. Australien war damals noch entgegenkommend, was Einwanderer btraf, die deutsche Regierung unterstützte die Überfahrt. Nach den Anfangsjahren machte er sich einen Namen als Kunstlehrer und Illustrator. Seiner eigenen Kunst kann er sich so richtig erst seit seiner Pensionierung widmen.

Beate Naß

bis 4.9. Mo-Fr 10-18, Mi 10-21 , Sa 10-13