„Vorsichtig wie die Jungfrau, flink wie das Kaninchen“

Im Geiste Mao Zedongs wurde in Hamburg der Europameister im GO, dem Spiel der Kaiser, ermittelt  ■  Aus Hamburg Fred Schywek

Der Sieger der 32. Europameisterschaft im GO heißt Tibor Pocsai. Er ist 26 und freiberuflicher Mathematiker. In den Betonfluren der Universität Hamburg, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, löste er den bisherigen Champ, den Briten Mathew MacFayden, bei diesem höchsten Amateurwettbewerb in Europa ab., Pocsai gewann den Titel nicht wegen besonderer Spielstärke, sondern mit seiner Strategie des eisernen Willens, denn an den Vortagen lag er noch weit zurück im Feld.

„Seid vorsichtig wie die Jungfrauen und flink wie die Kaninchen“, ganz nach der Guerilla-Strategie des GO-Spielers Mao Zedong hat er gespielt und bei dem 15 Tage währenden Turnier gegen die 450 Teilnehmer aus 25 Ländern Europas die GO-Krone nach Ungarn geholt.

Wenn Schach das Spiel der Könige ist, so ist GO das der Kaiser. Gut 5.000 Jahre zurück liegen die Wurzeln des Brettspiels in Asien, doch die Regeln sind seitdem fast gleich.

Auf einem Holzbrett mit einem Netzraster mit 361 Schnittpunkten, 19 mal 19 Zentimeter im Quadrat, setzen die beiden Spieler abwechselnd ihren schwarzen oder weißen linsenförmigen Stein. Im alten Japan wurden sie aus hellen Venusmuscheln und Schiefer gefertigt, doch die Turniere von heute werden mit Glas gespielt. Ziel einer Partie, in der Regel geht sie über 250 Züge, ist das Einkreisen möglichst großer Gebiete und „nebenbei“ die Gefangennahme von gegnerischen „Ishis“ (so heißen die Glasspielsteine).

An den eigens aus Japan eingeflogenen 250 Kayaholzbrettern sitzt der bunte Haufen der GO-Maniacs. Der jüngste Spieler zählt neun Jahre, beim ältesten verbietet die Nachfrage die asiatische Höflichkeit. Auch die Berufsstruktur spricht Bände: Ein Exil-Chinese ist Broker in London, der schwedische Teilnehmer arbeitete in der Gründungsmannschaft von Apple-Computers in Kalifornien. Im damaligen Goldrausch ließ er mit seinen Kollegen sogar die Gruppe „Police“ zur Geburtstagsfeier seines Chefs auftreten. Da ist weiter der letztjährige Europameister Mathew MacFayden, der sich selbst zum „Lebenskünstler“ deklariert und mit seinem Hausboot durch englische Kanäle und Flüsse schippert. Er lebt von Luft und Liebe und: GO. Die Frage, wer GO spielen könne und solle, beantwortet sich durch diese bunte Hamburger Zusammensetzung: Jeder.

Ein großer Vorteil ist die Steinvorgabe. Die Kategorien der Spielstärke sind denen in den asiatischen Kampfsportarten ähnlich. gegliedert vom 30. Kyo des Anfängers bis hoch zum 9. Dan des Profis. Entsprechend dem Stufenunterschied erhält der schwächere Spieler eine Steinvorgabe, die die Gewinnchance auf 50:50 schraubt. „Natürlich gibt es Rangunterschiede“, beschreibt der Essener Ralf Hohenschurz, VizePräsident des Deutschen GO-Verbandes, die Struktur, „doch es herrscht ein permanentes Fließen von oben nach unten und zurück. Es ist nicht wie beim Schach, wo die Elite im Inzest lebt.“

Ein großer Unterschied bestehe auch im Spielcharakter. Ralf Hohenschurz: „Ich war früher selbst Vereinsspieler. Meine Mitspieler waren meist wenig kreativ, spielten automatische Standardzüge aus dem Lehrbuch nach und ihren Urlaub nach Jugoslawien buchten sie pauschal bei Neckermann.“

Die ersten drei GO-Züge erlauben 40 Millionen Kombinationsmöglichkeiten. Müßte ein Computer alle Möglichkeiten einer gesamten Partie durchspielen, so erhielte er einen Wert mit 760 Stellen. Zum Vergleich: die geschätzte Anzahl der Atome im gesamten Weltall wird mit einem Wert mit 76 Stellen festgesetzt. Ab dem 40. der 250 Züge beginnt auch für den stärksten der japanischen Profis das Neuland. So weit reicht keine Theorie, im GO gibt es keine abgeschlossene. Ab jetzt heißt es mit Shun-zis gelehrten Worten: „Überschreitest du die Grenze, dann gib acht“.

Und der über mehrere Jahre unumstrittene Weltmeister und 9. Dan-Inhaber Rin Kaiho gibt auf die Siegeschancen gegen ein göttliches Wesen die Antwort: „Wenn ich vier Steine Vorgabe bekomme, werde ich gewinnen. Bei drei Steinen bin ich mir nicht so sicher.“