DA SCHMACHTET DIE SEPTIM

■ Schönbergs „Gurrelieder“ in der Philharmonie: Mit Jessye Norman, Brigitte Fassbänder, Barbara Sukowa, drei Chören und zwei Orchestern

In seiner Wiener Stadtwohnung störte ihn das Gebimmel der Kirchenglocken. Mahler an Schönberg: „Das macht nichts, nehmen Sie doch die Glocken in ihre nächste Symphonie“.

Im Komponierhäuschen am Attersee störte ihn außer dem Kindergeschrei (siehe taz von gestern) auch das Vogelgezwitscher. Schönberg an Mahler: „Das macht nichts, nehmen Sie es doch in ihre nächste Symphonie.“

In Schönbergs Gurreliedern werden die Totenglocken von den zwölf Kontrabässen, den vier Harfen und der Pauke geläutet; in Mahlers Erster Symphonie singt der Kuckuck eine Quart. Schwingende Saiten für schwingende Luft, eine Quart für eine Terz: Naturlaut.

Schönbergs Gurrelieder, das ist der Ring und Tristan zusammen in zwei Stunden im Konzertsaal. Die Wiener annoncierten zur Uraufführung 1913 einen „Chorkörper von 600 Personen, 6 Solisten, einen Rezitator und ein Orchester von 150 Mann“. Ein Mammutoratorium nach der Novelle des 20jährigen Jens Peter Jacobsen, eine Art dänische Nibelungensage, mit Liebestod und Naturmystik, Knochenklappern und Spinnengebein, mit 10 Hörnern, acht Flöten und sieben Posaunen, mit Leitmotiven und unendlicher Melodie, schwüler Chromatik und schmachtender Septim. Wagner hoch drei.

Isolde heißt hier Tove. Wenn sie ihre Stimme erhebt, schweigt das Blech, die Geigen teilen sich und versteigen sich zu höchsten Höhen, dazu nur die Bässe, der Mittelbau fehlt. Kein ordentliches Klangspektrum, die Musik wird an den Rand getrieben: „Sterne jubeln, das Meer, es leuchtet“ die Streicher tanzen Walzer, das Orchester spielt verrückt. Jessye Norman singt „Ich liebe dich„; den Es-Dur-Dreiklang und die Sext dazu, die Sext auf „liebe“. Das Sehnen als Intervall. „Denn all‘ meine Rosen küßt ich zu Tod‘. dieweil ich Deiner gedacht.“ Septimen und übermäßige Intervalle, die Melodie dehnt sich über die Oktaven. Ein normaler Mensch wechselt dabei die Register, ein Ton Sopran, der nächste Alt; die Stimme bemüht die Tonlagen wie der Streicher die Saiten seiner Geige. Die Stimme von Jessye Norman ist in jedem Ton ganz da, noch in der kleinsten Nuance klingt das gesamte Register. Wo andere akrobatische Klimmzüge veranstalten, Hochleistungssport treiben, hebt sie nicht einmal den kleinen Finger. Tristan heißt Waldemar, er ist der König. Als Tove ihre verrückte Rede anstimmt und ihren Walzer tanzt, wird er ganz fromm und singt Choral. Ein tumber Mann. Als Tove tot ist, kann er vor Trauer nicht sterben. Um Mitternacht jagt er mit seinen Mannen als Gespenster-Horde durchs Land. Die Trommel schnarrt, das Blech fährt auf, das Orchester marschiert: Waldemar strotzt und protzt vor Gott, diesem grausamen Herrn. Der Männerchor stapelt sich bis unter die Decke der Philharmonie, Hunderte singen Hussa und Holla und hetzen und jagen. Ein Heer rauher Männerkehlen und dazu das Orchester als Kriegmaschinerie. Fortissimo. Doch Jessye Norman schweigt.

Dem Bauern klappern vor Angst die Zähne, die Musik wird knochentrocken, mit Xylophon und Ratschen und „schweren Eisenketten“, die zwei Stunden lang über einer Stange hängen, damit zwei-, dreimal leise mit ihnen gerasselt wird. Waldemars Hof-narr fängt zu jammern an, das Blech quält sich mit gestopften Trichtern, die Piccolo-Flöten zerren an den Nerven: das Mannsbild als Groteske. Claudio Abbado ist kreidebleich, beim Schlußapplaus ist er das Gespenst.

Diesen dritten Teil der Gurrelieder hat Schönberg zehn Jahre später instrumentiert. Dem satten, schwülen hyperromantischen Klang der Liebessehnsucht folgt die Verzerrung. Trockene Musik. Es dämmert, der nächtliche Spuk ist bald vorbei. Barbara Sukowa huscht durch die Orchesterreihen, beschwört Herrn Gänsefuß und Sankt Johanniswurm, Frösche, Spinnen und anderes Getier. Sie legt die Finger auf die Lippen: alle sollen still sein. Zum ersten Mal notiert Schönberg hier Sprechgesang; Tove ist tot, die Stimme ihres Tons entkleidet. Aber die Sukowa ist nur gut, wenn sie flüstert, sie spricht bloß, es ist nicht künstlich genug. Kein Sprechgesang, keine Beschwörung.

Schönberg treibt den klassischen Apparat an den Rand des Möglichen. Die Männer singen Kopfstimme und imitieren Frauenchor. 12 Kontrabässe spielen so tief, daß das Dröhnen kaum noch einen Ton macht, dazu die Flöten so hoch, daß es weh tut. Minutenlang. Die Flötistinnen müssen abwechselnd spielen, damit das Pfeifen nicht unterbrochen wird. Aber sie schaffen es nicht. So hört man, wie es gemacht ist. Wenn der Einsatz klappert, macht der Klang keinen Effekt mehr. Dann ist er nur die Summe der einzelnen Instrumente, die man sich hastig aus dem Riesenorchester zusammensucht. Dabei ist das Orchester deshalb so riesig, damit man nicht nur nicht mehr hört, wer die Musik macht, sondern es nicht mehr sieht. Beim EG- und beim Gustav-Mahler-Jugendorchester sieht man es manchmal doch.

In Wagners Ring geht am Schluß die Welt unter, bei Schönberg geht die Sonne auf. Mit Dur-Dreiklang und forte und gemischtem Chor. Anfangs noch mit der Sehnsuchts-Sext, aber dann im reinen C-Dur. Strahlend, ohne Sext. Ich hab sie so vermißt.

Christiane Peitz