Kinder vergiftet und niemand hat Schuld

■ Verfahren gegen Holzschutz-Unternehmer vor dem Amtsgericht eingestellt / Er hatte im Dachstuhl eines Kindergartens in St.-Magnus den „Hausbock“ bekämpft / Lösungsmitteldämpfe machten die Kinder über Wochen und Monate krank

Die Kinder saßen still an ihren Tischen, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet. Einige erbrachen sich, andere hatten Kopfschmerzen und kratzende Hälse. Als der Kindergarten in St.-Magnus endlich geschlossen worden war, hielten die Vergiftungssymptome bei vielen Kindern noch über Wochen und Monate an.

Das war im September 1984. Gestern, fast vier Jahre danach, wollte Amtsrichter Dieter Nordhausen klären, wer an den Leiden der Kinder Schuld war. Auf der Anklagebank: Hermann D., Inhaber einer Firma für Holz- und Bautenschutz, die im Dachstuhl des Hauses mit Chemikalien Holzschädlinge bekämpft hatte. Der Tatvorwurf: Fahrlässige Körperverletzung. Gegen eine Geldbuße von 3.500 Mark wurde das Verfahren eingestellt.

Der „Hausbock“ soll dem Gebälk der fast 100 Jahre alten früheren Dorfschule von St. Magnus zugesetzt haben. Deshalb schrieb das Bauamt von Bremen-Nord den Auftrag aus, den Dachstuhl zu imprägnieren. Welches Mittel dafür einzusetzen sei, das war in der Ausschreibung gleich mitvermerkt: „Impra GS Spezial, farblos“, von den „Chemischen Fabriken Weyl“ in Mannheim. Das Holzschutzmittel enthält zu einem Prozent das Insektengift Lindan. Lösungsmittel ist „Testbenzin“, das auch in vielen Farben und Lacken enthalten ist.

Was in der Ausschreibung des Bauamtes nicht enthalten war: Ein Posten für die Kontrolle des Dachbodens nach Abschluß der Arbeit. Darauf wies der angeklagte Unternehmer gestern hin. Denn nachdem die Arbeiter Dachbalken und Schalbretter mit dem Insektengift eingespritzt hatten, war der Spitzboden länger als zwei Wochen nicht belüftet wor

den. Das Lösungsmittel war verdunstet und ins ganze Haus gedrungen, besonders in die Räume des Obergeschosses.

Daß gelüftet werden muß, stand nicht auf dem Merkblatt der Herstellerfirma, das den Kanistern beigegeben war.

Dennoch hätten seine Arbeiter das Personal des Kindergartens darauf hingewiesen, sagte der Unternehmer gestern. Sein Vorarbeiter konnte das aber nur vage bestätigen. Beim Kindergarten-Personal ist wohl genau das Gegenteil angekommen: Man dürfe den Boden nicht belüften, bekam die Leiterin des Kindergartens zu hören, als sie aus dem Urlaub zurückgekehrt war. Sie stieg schließlich auf den Boden, alarmiert von dem üblen Geruch und den Vergiftungs -Symptomen bei Kindern und MitarbeiterInnen. Der Raum sei mit beißendem Nebel angefüllt gewesen. Balken und Bretter hätten wie naß geschimmert. Sie habe dann sofort das Fenster aufgerissen und die Behörden alarmiert.

In den Nordbremer Amtsstuben Bewegung zu erzeugen, erwies sich allerdings als sehr schwer, berichtete sie gestern vor Gericht. Besonders der Sachgebietsleiter Gebäudeerhaltung des Bauamtes, Karlpeter Hundsdörfer, habe sie als „dumme, hysterische Frau“ behandelt. Erst als er selbst auf den Boden gestiegen sei, wäre er ganz still geworden. Kurz darauf wurde der Kindergarten auf Anweisung des Gesundheitsamtes geschlossen, die einzelnen Gruppen in notdürftigen Quartieren untergebracht. Erst ein halbes Jahr später kehrten sie in das alte Gebäude zurück, nachdem die Decke zwischen dem Obergeschoß und dem Dachboden saniert und hermetisch abgedichtet worden war. Auch wurde alles entfernt, was aus

Holz und Papier im Hause war, und Reste von dem verdunsteten Testbenzin aufgenommen haben könnte.

Sachgebietsleiter Hundsdörfer quittierte die Vorhaltungen der Kindergartenleiterin gestern mit Schweigen. „Impra GS“ habe er für ein ungefährliches Mittel ge

halten, das gehe auch aus den Merkblättern der Herstellerfirma hervor. Auf Anfragen des Jugendamtes hatte er geantwortet, daß das Mittel behördlicherseits als nicht giftig gelte. Seit den Vorfällen im Kindergarten rücke man den Hausböcken mit heißer Luft zu Leibe und mit dem Insek

tengift nur dann, wenn Heißluft nichts hilft.

Der insektenvertilgende Unternehmer fühlte sich nicht schuldig. Er habe handwerklich solide und nach den geltenden Vorschriften gearbeitet, beteuerte er immer wieder, er sei eben das Opfer einer unglücklichen Verket

tung geworden. Das leuchtete auch dem Richter ein: Bisher habe man wohl über den Giftstoff Lindan nachgedacht, die Trägersubstanz Testbenzin jedoch nicht beachtet. Die Geldbuße des Unternehmers wird einem Lilienthalter Heim für behinderte Kinder gutgeschrieben.

mw