Die Ethik des Restaurierens

■ Im Juli war der Chefkonservator der Pariser Cinematheque, Vincent Pinel, in Berlin, um im „Arsenal„-Kino frisch restaurierte Schätze seines Museums vorzuführen. Gerhard Midding sprach mit ihm über die technischen, historischen und ästhetischen Probleme seiner Arbeit

taz: Monsieur Pinel, dem Gründer der cinematheque fran?aise, Henri Langlois, wurde häufig vorgeworfen, er sei nur an der Vergrößerung der Filmsammlung, nicht aber an deren Konservierung interessiert gewesen. Was hat sich seit seinem Tod im Jahre 1977 verändert?

Vincent Pinel: Ich glaube nicht, daß Langlois das Sammeln von Filmen gegenüber deren Erhaltung privilegiert hat. Aber er hatte vielleicht eine etwas magische Vorstellung von der Konservierung der Filme: Er glaubte nicht wirklich an ihre Zerstörbarkeit. Er ging davon aus, daß die Filme in dem Augenblick, in dem sie in der cinematheque in einer Büchse archiviert werden, schon gerettet sind. Es steht außer Zweifel, daß er sehr darunter gelitten hat, daß die Filme mit der Zeit zu Staub zerfielen und andere Schäden nahmen.

Heute haben sich die Zustände natürlich wesentlich gewandelt. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse verlangen eine viel sorgfältigere Konservierung des Filmmaterials, bei der ganz präzise die richtige Raumtemperatur, Luftfeuchtigkeit, Ventilation etc. bestimmt werden. Langlois hätte diese Entwicklung zweifellos als zu bürokratisch und technokratisch empfunden! Wir konnten zum Beispiel nicht umhin, ein Inventar unserer Filmbestände zu erstellen - eine Arbeit, mit der wir seit vier Jahren beschäftigt sind. Wir überprüfen die Filmbüchsen auf ihren Inhalt, den Zustand des Materials, wir verifizieren die Identität der Filme etc.

Ist das Umkopieren vom alten Nitrofilm auf den modernen Sicherheitsfilm immer noch eine Hauptaufgabe?

Das Umkopieren des leicht entflammbaren, für uns also sehr gefährlichen Nitrofilms ist eine Aufgabe, die noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Dabei müssen wir uns aber auch vor Augen führen, daß ein Großteil der betroffenen Filme in zehn Jahren schon gar nicht mehr existieren wird. Das Nitromaterial zerfällt selbst bei sachgemäßer Lagerung. Obwohl wir im Jahresdurchschnitt etwa 80 Langfilme und ebenso viele Kurzfilme umkopieren und restaurieren, bleibt es ein Wettrennen mit der Zeit. Und diese Aufgabe verbinden wir - ganz im Sinne von Langlois - mit einer anderen: der Präsentation der Filme. Im Grunde arbeiten wir ganz im Selbstverständnis eines traditionellen Museums, das Kunstwerke aufbewahrt und ausstellt. Das war eine fundamentale Idee Langlois‘, er legte sehr viel Wert auf die Präsentation eines durchaus disparaten Filmprogramms.

Ist es beim Umkopieren von Nitro- auf Sicherheitsfilm möglich, ein identisches Bild zu bekommen? Gibt es nicht große Unterschiede, zum Beispiel bei der Frage der Schwarzweiß-Kontraste?

Diese Unterschiede betreffen nicht das Trägermaterial, also den Nitro- oder Sicherheitsfilm. Für das Bild ist es unerheblich, welches Material es ist, da sehen Sie keinen Unterschied. Der Unterschied liegt in der fotografischen Emulsion, der lichtempfindlichen Oberfläche. Das wirkliche Problem liegt in der Verwendung des orthochromatischen Films in der frühen Stummfilmzeit, welche Mitte der zwanziger Jahre vom panchromatischen Film abgelöst wurde. Die Kontraste waren bei dem frühen Material viel stärker, also bestehen tatsächlich große Unterschiede in der Bildqualität. Doch andere Faktoren greifen ebenfalls in diesen Prozeß ein: Oftmals existieren nur Kopien, die zur letzten „Generation“ im Prozeß des Umkopierens gehören. (Von „Generation“ spricht man beim Umkopieren vom Originalnegativ auf ein Zwischenpositiv, danach auf ein Negativduplikat und schließlich auf das Verleihpositiv.) In diesem Prozeß entstehen große plastische Unterschiede, und deshalb ist es natürlich das Ideal, auf ein Originalnegativ zurückgreifen zu können, denn im Verlauf des Umkopierens entsteht ein großer Qualitätsverlust.

Wie sieht Ihre alltägliche Arbeit aus?

Sie besteht aus zuviel bürokratischer Arbeit, aus zuviel Korrespondenz. Ich verbringe zuwenig Zeit am Schneidetisch. Meine Verantwortung liegt in dem Delegieren und Leiten der gesamten Restaurations- und Konservierungsarbeit in der cinematheque.

Was für Kriterien legen Sie in Ihrer alltäglichen Arbeit an? Welchen Film soll man vor dem Verfall retten und welchen nicht? Wie werden solche Entscheidungen getroffen?

Das Kriterium lautet eigentlich: Absolut alles muß gerettet werden! In der Praxis ist man natürlich gezwungen, eine Auswahl zu treffen, denn unsere Mittel und unser Personal reichen nicht aus. Es entstehen alltägliche Notwendigkeiten oder Gelegenheiten: Vielleicht wird gerade zufällig ein Negativ gefunden, das augenblicklich gerettet werden muß.

Die Frage nach den Kriterien ist schwer zu beantworten. Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von Kriterien. Zum einen gibt es ganz offensichtliche technische Gründe: Wenn ein Film im Zersetzungsprozeß begriffen ist, muß man ihn retten. Andererseits kann man darauf natürlich nicht warten, denn dann würde man ja nur noch Filme konservieren, die bereits beschädigt sind. Darüber hinaus gibt es Kriterien, die sich schwer definieren lassen: das Interesse an einem Film als soziologisches oder historisches Dokument. Oder es ergibt sich die Notwendigkeit, einen Film für das Programm zu restaurieren: Wenn man eine Hommage an einen wichtigen Cineasten veranstaltet, hat das Umkopieren seiner Filme Vorrang. Theoretisch sind alle Filme gleichwertig, aber wie auf der „Farm der Tiere“ gibt es solche, die gleicher als andere sind.

Wie steht es mit der Zusammenarbeit mit anderen Kinematheken?

Die Situation verbessert sich in Frankreich zusehends. Unsere Arbeit wird jedoch zunächst dadurch erschwert, daß wir nicht genau wissen, welche Filme in der cinematheque existieren. Unser Inventar hat bisher erst den Buchstaben „D“ erreicht. Das Wissen, welche Filme in welchem Zustand in unserem Archiv existieren, ließe uns die dringlichen Notfälle erkennen, aber bisher arbeiten wir da ein bißchen im Dunkeln.

Ebenso wichtig ist natürlich auch das Wissen darüber, welche Filme außerhalb unseres Hauses existieren. Man ist dabei, ein Inventar sämtlicher französischsprachigen Kinematheken zu erstellen: Es wird nicht allein Frankreich umfassen, sondern auch so wichtige Archive wie das von Freddy Buache in Lausanne oder das der cinematheque in Kanada. Das ist ein wichtiger Schritt nach vorn, um zu erkennen, welche Filme gefährdeter sind als andere. Wenn wir wissen, daß von einem gegebenen Film nur eine Kopie existiert, hat die Restaurierung also Priorität. Das Wissen, daß mehrere Kopien existieren oder daß Instandsetzungsarbeiten geleistet werden, gibt uns eine gewisse Sicherheit. Wir müssen uns immer vor Augen führen: Ein Film existiert nur durch das Material, wenn es keine Kopie, kein Negativ gibt, dann ist der Film verloren. Ganz im Gegensatz zu Büchern.

Was halten Sie von der „colorization“ alter Schwarzweißfilme?

Die „colorization“ ist eine Entwicklung, die die cinematheque entschieden ablehnt! Sie kommt einem sehr schwachsinnigen Bedürfnis entgegen. Wahrscheinlich kennen Sie in Deutschland das gleiche Problem: Wenn im Fernsehen ein Schwarzweißfilm läuft, sinken die Einschaltquoten schlagartig. Eine Erfahrung aus jüngster Zeit war die Ausstrahlung von „Les Enfants du Paradis“: Nach zehn Minuten schalteten die Zuschauer ab, weil der Film nicht in Farbe war! Vor kurzem gab es in Paris ein Gerichtsurteil, das die Ausstrahlung des John-Huston-Filmes „The Asphalt Jungle“ in der kolorisierten Fassung verhinderte. Eine wichtige Entscheidung, jedoch sicher nur vorläufig. Auf längere Sicht werden die Leute gewinnen, die von der „colorization“ profitieren.

Ich möchte noch einmal unsere Ablehnung betonen, denn sofern sie nicht vom Regisseur selbst vorgenommen wurde widerspricht die „colorization“ dem Grundsatz der Originaltreue, der für unsere Restaurierungsarbeit bindend sein sollte.

Gibt es eine „Ethik des Restaurierens“?

Das Ziel, das wir in der cinematheque verfolgen, ist es, den Film in seinem Originalzustand wieder herzustellen. Das ist leichter gesagt als getan, denn schon die Frage des Originalzustands wirft Probleme auf: Restaurieren wir die Version des Films, die das Publikum zuerst sah, oder - denn da gibt es oftmals beträchtliche Unterschiede - die Version, die den Vorstellungen des Regisseurs entspricht? Diese Frage geht bereits in den Bereich der Interpretation.

Gehen wir jedoch von einer gegebenen Originalversion aus. Zunächst muß man alle Elemente und Einzelteile finden. Denn Filme sind oft wie zerbrochene Vasen, es fehlen Teile, die man nicht hinzuerfinden kann. Das ist ein Punkt, ein weiterer ist mitunter problematischer: Oft gibt es gar keine Möglichkeit, den Originalzustand eines Films, seine ursprüngliche Form zu bestimmen. Die cinematheque besitzt einen großen Reichtum: Sie besitzt sehr viele Negative. Aber die Negative, aus der Stummfilmzeit beispielsweise, geben nur wenige Anhaltspunkte für die Vollständigkeit der Kopie. Durch das Fehlen des Tons konnten Filme mitunter beliebig umgeschnitten werden. Ein grundlegenderes Problem ergibt sich jedoch aus der Form der Aufbewahrung in der Stummfilmzeit. Man bewahrte die Negative nicht auf großen Spulen oder Rollen auf, sondern in kleinen Schachteln, auf kleineren Rollen, zwischen die man die Zwischentitel klebte. Auf diese Weise finden wir also heute nur die ungeordneten Schachteln vor, die wir erst einmal in die richtige Reihenfolge bringen müssen. Oft genug sind die Zwischentitel verschwunden, denn sie wurden - aus ökonomischen Gründen - nicht auf Negativmaterial aufgenommen, sondern in schwarzer Schrift auf weiße Pappkartons geschrieben (was einen guten Kontrast ergab) und direkt mit dem Positivmaterial abgefilmt. Auf diese Weise verringerte man die Länge des Negativmaterials und mußte die Kartons für fremdsprachige Versionen nur austauschen. Heutzutage passiert es oft, daß uns das Filmmaterial erhalten geblieben ist, nicht aber das Pappmaterial, denn das löst sich schneller auf.

Wenn man also keine Musterkopie, keine Positivkopie aus der Entstehungszeit des Films zur Verfügung hat, muß man versuchen sich vorzustellen und zu rekonstruieren, wie der Film damals gestaltet war. Hierfür gibt es gewisse, nicht unbedingt zuverlässige Hilfsmittel. Dazu zählen Handlungssynopsen aus der damaligen Zeit, Drehbücher (welche aber vielleicht im Verlauf der Dreharbeiten umgeschrieben wurden) oder Partituren. In Deutschland gibt es die zusätzliche Information durch Zensurkarten, in denen die Zwischentitel aufgelistet wurden. Leider sind auch nur wenige Filmpartituren erhalten. Sie können uns jedoch Aufschluß über den Rhythmus und die Länge der Szenen geben, über ihre Reihenfolge und im allgemeinen auch über den Inhalt der Zwischentitel.

Erschwert wird die Situation durch Unterschiede und Widersprüche zwischen möglichen existierenden Kopien - nicht allein zwischen Kopien, die in verschiedenen Ländern verliehen wurden (und die in der Regel kürzer als das Original waren), sondern auch zwischen Kopien, die in einem Land kursierten und ganz unterschiedlich geschnitten sind.

In letzter Zeit gibt es wieder häufiger Stummfilmaufführungen mit Orchesterbegleitung. Ist die Arbeit der Filmarchive dadurch verstärkt ins Bewußtsein der Öffentlichkeit getreten?

In der Stummfilmzeit wurden Filme nur selten ohne Musikbegleitung aufgeführt. Deshalb gehört es ganz selbstverständlich auch zu unserer Pflicht, die Partituren zu rekonstruieren. Dies geschieht heute sogar mit größerer Sorgfalt als damals, denn für gewöhnlich wurden die Partituren sehr schnell durch Potpourris populärer Melodien ersetzt.

Sicher hat sich die Situation für die Archive etwas gewandelt, denn früher hat man die Filme für ein Publikum von Spezialisten und Filmliebhabern rekonstruiert. Und letztlich ist es heute doch so, daß sich nur ein gewisser Teil des Stummfilmrepertoires für eine große Aufführung eignet: eigentlich nur die großen Erfolge. Filme von Griffith, von Stroheim, von Rene Clair, von Abel Gance.

Als Kinemathek müssen wir natürlich darüber hinaus gehen. Zu unseren Aufgaben gehört es ganz selbstverständlich auch, unbekanntere Filme zu erhalten und zu rekonstruieren. Gerade in der Epoche des Stummfilms gab es in Frankreich eine sehr interessante Durchschnittsproduktion.