Sinfonie der Fünfzigtausend

■ Beethoven auf dem Vormarsch durch die Parks der Bundesrepublik / Von Gabriele Riedle

Zwanzig Jahre nach Woodstock hat sich das Kleinbürgertum von findigen Konzertveranstaltern die grünen Freiräume der Gegenkultur erobern lassen - die ehemalige „Hochkultur“ zieht's aus ihren Tempeln in den Essener Grugapark, auf die Wiese vor dem Berliner Reichstag oder in die Waldbühne. Wo eben noch die Rolling Stones oder Michael Jackson gespielt haben, dirigiert jetzt Sir Yehudi Menuhin vor 50.000 Zuschauern Beethovens Fünfte Sinfonie.

„Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.“ Gelesen hat Jungunternehmer Peter Schwenkow diesen Satz des Altphilosophen Walter Benjamin vielleicht nicht. Aber für sich und seine Kunst des Hochkulturvertriebs umzusetzen weiß er ihn allemal, der Veranstalter der „Open-Air-Classic„ -Tournee, die diese Woche das Royal Symphonie Orchestra samt ihrem Dirigenten Sir Yehudi Menuhin über die Freiflächen von Berlin, Freiburg, Würzburg, Bremen, Hamburg und Schwetzingen führt, im September noch Lorin Maazel und das Orchestre National de France nach Hamburg und nach Essen schickt und damit dann insgesamt rund 250.000 Zuhörer auf den Rasen gelegt haben wird, deren Repräsentativität für den Bevölkerungsdurchschnitt nur durch das leichte Übergewicht jüngerer Familien gestört werden könnte. Denn nach fünf Jahren intensiver Bedürfnisweckung in Sachen Klassik „in ungezwungener Atmosphäre unter freiem Himmel“ ist eine Nachfrage erzeugt worden, deren Befriedigung in Zukunft immer noch mehr Veranstalterkassen sowie Felder, Wiesen, Auen, Strandbäder, Stadtparks und Schloßgärten füllen dürfte. Schwenkow: „Über Qualität und gute Leistung lassen sich den Leuten langfristig neue Erlebnisebenen erschließen. Eine Eintrittskarte ist ein Versprechen, das man halten muß. Wenn man das über viele Jahre tut - gutes Licht, freundliche Ordner, saubere Stühle - kann man bestimmte Strömungen erzeugen.“

Vor fünf Jahren waren es noch ganze 1.600, die beim ersten freifinanzierten Freiluft-Konzert von Schwenkows Rockkonzert -Agentur „Concert Concept“ den Berliner Philharmonikern in der Berliner Waldbühne mit verminderter Andächtigkeit lauschten, dafür aber zwischen den einzelnen Sätzen applaudierten. Inzwischen aber hat Schwenkow an seine Agentur zusätzlich noch das Tournee-Unternehmen „The Classical Agency“ angebaut - Produzent auch von Andre Hellers Neger-Show „Body and Soul“ und von Harald Juhnkes Postalkoholismus-Tour.

Und nachdem Schwenkow vom Konzept der Stuhlreihen teilweise Abstand genommen hat, warfen sich vergangenen Sonntag auf der Reichstagswiese schon 50.000 und am Montag auf dem Rasen des Freiburger Seeparks immerhin 16.000 in die Wurmperspektive, aus der sie diesmal nicht dem amerikanischen Präsidentenpromoter Prince, sondern dem von Queen Elizabeth geadelten Sir Yehudi huldigten sowie dem schleswig-holsteinischen Bauern- und RegierungsHofmusikanten Justus („Grö„-)Frantz, Freund aller dahingegangenen und emporgekommenen Ministerpräsidenten. Der Piano- und PR -Virtuose, schon seit der Gründung seines Schleswig-Holstein -Festivals eng mit Schwenkows Hamburger Firma „City Concept“ kooperierend, beeilte sich dann auch - der Geigenbogen ist heimatlichem Boden offenbar schon fast überspannt -, der taz -Reporterin zuzurufen:„Das Schleswig-Holstein-Musikfestival muß in ganz Deutschland stattfinden. Diese Klassik-Open-Airs sind wie das Schleswig-Holstein-Festival!“

Wie sein Freund Frantz schwört auch Schwenkow darauf, den Musikmarkt für neue Zielgruppen aufzubereiten: mit niedrigen Eintrittspreisen (zwischen 10 und 20 Mark), vor allem aber mit seinem „gerechteren und demokratischen“ Gegenmodell zur Hochsubventionskulutur: „Ich bin weder Kommunist noch Sozialist noch Vertreter von Minderheiten. Denn hier gibt es eine Mehrheit, und das ist eine schweigende Mehrheit, die mit ihrem Anteil an Steuergeldern eine Minderheit bezahlt. Ein Veranstalter, der versucht, strategisch für die nächsten zwanzig Jahre zu denken, wohin das Unterhaltungsgeschäft in Europa geht, muß auch Anwalt derjenigen sein, an die er die meisten seiner Karten verkauft.“ Am meisten wünscht sich Schwenkow daher dann auch den Generalstreik an den traditionellen Konzertkassen mit ihren auf gerade 80 Mark herunter subventionierten Karten.

Ganz recht hat der Volkstribun mit seiner Staatskritik allerdings nicht mehr: Die jüngste Tendenz im staatsveranstalteten Volksbelustigungskonzept geht in eine ähnliche Richtung. In Berlin hat die teils bundes- und teils landeseigene Festspiele GmbH die Idee der Freiluftkonzerte bereits aufgegriffen. Die Subventionsempfänger sind aktiv geworden. So setzten die Berliner Festspiele am letzten Samstag das Österreichische Gustav-Mahler-Jugendorchester inklusive Claudio Abbado und Jessy Norman vor 20.000 Zuschauer in die Waldbühne (Eintritt: 20 Mark) und ließen für Gustav Mahlers 3.Sinfonie („O Mensch! Gib Acht!“) sogar den Flugverkehr umleiten. Die Werbeagentur Flaskamp ließ im Auftrag und mit Millionenbeteiligung des Senats von Berlin die teure Billig-Fantasy-Show „Inferno und Paradies“ des Opernregisseurs Winfried Bauernfeindt nach Dantes „Göttlicher Komödie“ abrollen - mit den einschlägigen Klassik-Hits vom Band. Nur kamen - trotz 15-Mark-Billig -Ticket statt der erwarteten 30.000 pro Abend nur wenige Tausend Zuschauer (Niedrig-Rekord: 3.000).

Kühle Rechner wie Schwenkow müssen also nicht nur gegen mißbilligende Blicke anderer klassischer Konzertagenturen kämpfen, sondern auch noch gegen die Konkurrenz aus der Subventionskultur: „Was wir hier tun, ist eine Form von Revolution und letztlich auch eine Form von Krieg“. Ein Krieg und eine Revolution, bei der sich der Staat mit der massenhaften Mobilmachung des Volkes hin zur neuen Zielgruppe längst beteiligt.

Staunender Dritter bei diesem Gerangel um die Gunst der Massen ist das Volk selbst. Denn ohne den produktionskostensteigernden Faktor Feuerwerk (plus 10.000 bis 100.000 Mark) geht heute in den großen Städten gar nichts mehr. Nur in kleineren Städten, „wo die Leute noch von dem Konzertereignis selbst überwältigt sind“, spart man sich „diesen unternehmerischen Schwachsinn“ (Schwenkow). „Das Feuerwerk gehört eben langfristig dazu. Ich glaube, wenn wir‘ s gut machen, werden wir die Möglichkeit haben, eines Tages einen Sonnenuntergang mit Abendessen am gedeckten Tisch zu verkaufen. Mit Stehgeigern. Wir werden wahrscheinlich noch zehn, fünfzehn Jahre brauchen, aber ich gebe mir Mühe.“