Schwierigkeiten mit der Reife der Zeit

■ Jiri Hajek war Außenminister unter Dubcek und später einer der Mitbegründer der Charta 77. Ein Gespräch über die Stalin-Zeit, Gorbatschow und die Reformperspektiven der CSSR

taz: Sie sind noch 1944 von den Deutschen interniert worden?

Jiri Hajek: Ich war in der Widerstandsbewegung und bin verhaftet worden. Ich verbrachte fünfeinhalb Jahre im Gefängnis und einen großen Teil davon in Hamburg -Fuhlsbüttel, was gut war: Es waren ungefähr 500 Norweger dabei. Da habe ich zum ersten Mal von diesen jungen sozialistischen Norwegern von Willy Brandt gehört. Ein Genosse, mit dem ich zusammengearbeitet habe, sagte: Was du sagst, das ist ähnlich wie das, was Willy Brandt sagt.

1945 sind Sie direkt in die Tschechoslowakei zurückgekehrt und in die KP eingetreten?

Ich war in der sozialistischen Jugend und dann in der sozialdemokratischen Partei. Als die sozialdemokratische Partei nach Februar 1948 mit der KP vereinigt wurde - nicht ganz so freiwillig, wie übrigens in allen anderen Ländern des Ostblocks -, da bin ich Mitglied der KP geworden und bin aus der KP dann 1968 ausgeschlossen worden.

Das heißt, Sie haben die fünfziger Jahre in der Partei verbracht, also auch die Zeit der Slansky-Prozesse, der großen Säuberungen?

Ich muß sagen, wenn ich jetzt kritisch zurückdenke: Es war eben so, daß wir linken Sozialdemokraten in der Widerstandsbewegung mit den Kommunisten zusammengearbeitet hatten. Wir sahen in der Atmosphäre des Kalten Krieges, daß der Sowjetblock die schwächere Seite ist, daß er bedroht ist. In dieser Atmosphäre haben wir die verschiedenen negativen Momente als eine traurige Notwendigkeit empfunden, die uns durch die Situation aufgezwungen wurde, die wir aber nie als positiv betrachtet haben, sondern die wir als das notwendige Übel hingenommen haben, um in einer besseren Situation für ihre Überwindung zu arbeiten. Und das haben wir dann im Prager Frühling gemacht.

Sie arbeiten jetzt mit Leuten zusammen in der Charta, die damals verhaftet worden sind?

Das zeugt von einem hohen Niveau dieser Leute, daß wir mit ihnen frei über ihre Vergangenheit sprechen können, in der sie gelitten haben, und daß wir auch unsererseits diese Vergangenheit überwunden haben und jetzt an der positiven Lösung der gegenwärtigen Probleme mitarbeiten werden. Es ist nicht ohne Reibungen. Aber zum Beispiel haben wir jetzt mit unseren Freunden in der Charta Diskussionen über das Bewerten vom Febraur 1948, wo natürlich diese Leute nur das Negative sehen und wir versuchen, ihnen klarzumachen, warum die Mehrheit der politisch denkenden Öffentlichkeit dafür war, ohne im voraus zu sehen, was später daraus werden sollte. Natürlich wird man sich nicht immer über alles einig.

Trotz Glasnost und gewisser Ähnlichkeiten zwischen Ihrer Politik 1968 und der Perestroika hat Gorbatschow noch keinen Hinweis auf eine Neubewertung des Prager Frühlings erkennen lassen. Stünde das nicht an?

Von Anfang an, also seit dem Besuch von Gorbatschow in Prag, standen meine Freunde und ich auf dem Standpunkt, daß natürlich Gorbatschow als Haupt einer Supermacht doch gewisse Prioritäten hat, die nicht dieselben sein müssen wie unsere Prioritäten. Aber logisch gesehen: Er hat vor einem Jahr das Breschnew-Regime als konservativ, als rückständig bezeichnet, seine Politik als auf Konzepten des Sozialismus beruhend, die in den dreißiger und vierßiger Jahren hängengeblieben waren. Das bezieht auch die Intervention der CSSR ein. Zweitens hat Gorbatschow auch später, besonders bei den Feierlichkeiten der 70 Jahre der Oktoberrevolution gesagt, daß es in der Geschichte keine weißen Flecken geben soll. Er hat es auch in seinen Gesprächen mit Jaruzelski betont. Ich glaube, daß das nicht nur weiße Flecken, sondern auch schwarze Flecken bedeutet. Einer der schwärzesten Flecken der sowjetischen Außenpolitik ist eben die Intervention in der Tschechoslowakei im Jahre 1968, denn sie stand im krassen Widerspruch nicht nur mit der Charta der Vereinten Nationen, sondern auch mit der Charta des Warschauer Vertrags, Artikel 1. Sie war ein ganz krasses Beispiel für das, was die Sowjetunion damals als Aggression definiert hat. Und was sie bereits im Jahre 1933 mit der Tschechoslowakei unterschrieben hat. Deswegen glaube ich, daß es nicht nur für sein Verhältnis zum tschechoslowakischen Volk oder für die Glaubwürdigkeit von Gorbatschows Politik in der CSSR, sondern auch für die internationale Glaubwürdigkeit der Sowjetunion und selbst für die Perestroika in der Sowjetunion von Wichtigkeit wäre, diesen schwarzen Fleck irgendwie zu beseitigen.

Aber ich habe den Eindruck, daß Gorbatschow genug Probleme hat in der Sowjetunion selbst. Man könnte meinen, daß er ein Interesse daran haben muß, daß in den verbündeten Ländern alles möglichst ruhig bleibt.

Ich glaube, wir verstehen das auch hier. Er will seine Verbündeten wirklich als Verbündete und nicht als Satelliten behandeln. Er kann nicht, um eine Perestroika bei uns herbeizuführen, einfach von oben Veränderungen in der Zusammensetzung der Führung durchsetzen. Damit sind wir auch einverstanden. Denn prinzipiell sind wir damit einverstanden, und wir betrachten das als fortschrittlich, daß Gorbatschow diese Einstellung zu seinen Verbündeten eingenommen hat und die durchsetzt. Aber das einzige, was hier zu machen wäre, wäre wirklich eine objektive Beurteilung dieses Geschehens im Jahre 1968. Ich bin auch damit einverstanden, daß es vielleicht nicht heute an der Tagesordnung für Gorbatschow liegt.

Ich habe den Eindruck, daß auch bei der Diskussion um Dubceks jüngstes Interview zwei verschiedene Demokratiebegriffe verwandt werden. Einmal der Begriff Demokratie als Selbstverwaltung der Menschen (auch außerhalb der Partei) und dann der Demokratiebegriff von Gorbatschow und vielleicht auch von Dubcek, der Demokratie als funktionierenden demokratischen Zentralismus versteht. Werden diese beiden Sachen nicht immer durcheinander gebracht?

Es ist mir sehr schwierig, den Gorbatschow richtig zu dolmetschen, denn ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß er nicht immer in der Lage ist, seine Gedanken ganz offen zu sagen. Denn er hat eben sehr viel mit Konservativen in dem Parteiapparat zu kämpfen und er muß wie jeder Politiker gewisse Kompromisse eingehen. Und deswegen glaube ich auch, daß es vielleicht für ihn nicht möglich ist, das zu sagen, was er vom Prager Frühling hält und wie er sich eigentlich die sozialistische Demokratie vorstellt. Aber von Dubcek weiß ich, daß er die sozialistische Demokratie als eine wirkliche Demokratie, nämlich als Selbstverwaltung der Menschen versteht.

Auch außerhalb und gegen die Partei?

Ja, auch in unserem Aktionsprogramm hat die Partei ihre Führungsrolle nicht als gegeben, nicht als für immer festgestellt betrachtet, sondern als eine Aufgabe, die sie gegenüber ihren Partnern in der Demokratischen Front und in der Gesellschaft zu erfüllen hat durch ihre Initiative des Gedankens und der Tat. Ich kann mir natürlich vorstellen, daß die russischen Traditionen anders sind. Die russischen Revolutionäre, selbst die Narodniki, die Vor-Bolschewisten, betrachteten die Demokratie immer als von oben ausgehend, während die Demokratie eine Initiative von unten vorsieht. Wenigstens wenn von oben Initiativen ausgehen, dann muß die Antwort von unten gleichwertig sein. Ich sehe jedoch bei Gorbatschow etwas verschiedenes von den bisherigen Stereotypen des sogenannten marxistisch-leninistischen Denkens, nämlich daß die bürgerliche Demokratie insgesamt nicht verworfen wird, sondern ähnlich wie in der Technik oder im ökonomischen Mechanismus verschiedene Teile der bürgerlichen Demokratie anerkannt werden.

Dubcek hat sich an die Partei gerichtet. Er möchte rehabilitiert werden und die Kommunisten in- und außerhalb der Partei wieder vereinigen. Gab es denn irgendein Echo aus der Partei auf seine Interviews?

Das ist schwer zu sagen. Ich weiß nicht, ob die Parteiführung wenigstens innerlich auf das Interview reagiert hat oder reagieren wird. Wahrscheinlich wird sie es nötig haben, wenigstens durch gewisse innere Schreiben ihre Mitglieder davon zu informieren. Denn schließlich bin ich sicher, daß es viele Mitglieder der KP gibt, die von diesen Interviews erfahren haben und die es mitgehört haben. Aber bis jetzt ist keine Stellung genommen worden.

Man muß auch in Betracht nehmen, daß die Zusammensetzung der Mitgliederschaft der KP heute ganz anders ist als im Jahre 1968, denn die aktivsten Elemente und die Leute, die in der Partei aus ideologischen oder aus moralischen Gründen eingetreten sind, sind größtenteils rausgeschmissen worden. Ich glaube, daß die tschechoslowakische Partei dem bekannten Rat von Bert Brecht gefolgt ist, den er im Jahre '53 gegeben hat: Das Volk oder wenigstens die Mitgliederschaft auszutauschen. Heute, das kann ich mit Ruhe sagen, sind die Motive des Eintritts in die KP ganz andere. Das ist um eine Beförderung zu bekommen, um einen guten Job zu haben oder zu behalten und um sich irgendwie durchzusetzen. Das müssen nicht unbedingt egoistische Gründe sein.

Das Interesse der Technokraten liegt im guten Funktionieren der Wirtschaft. Was hat daß mit Demokratie zu tun?

Ich kann mir vorstellen, daß sich viele Mitglieder der Partei und auch viele technokratisch gesinnten Leute und einfache Leute, die ihre Arbeit lieb haben, daran interessiert sind, daß ihre Arbeit gut wird. Wenn diese Leute dann die Sicherheit haben, daß die Führung das auch ehrlich meint, kann eine Reform von oben durchgeführt werden. Wenn das aber dieselben Leute waren, die die Reform 1968 unterdrückt haben und sie heute noch beschimpfen - ich glaube, das genügt eben nicht, um das Vertrauen dieser Leute zu gewinnen und sie dazu zu bringen, sich auch für etwas einzusetzen, was nicht immer für sie von Vorteil sein kann.

Es gibt in der Charta sehr viele Tschechen und wenige Slowaken. Gibt es einen Zusammenhang damit, daß die Slowakei sehr katholisch ist?

Vielleicht auch das. Ich möchte sagen, daß die Slowakei relativ von der Normalisierung nicht so schwer betroffen wurde wie der tschechische Teil.

Wie kommt das?

Das ist interessant. Im Prager Frühling war es der tschechische Teil der Partei und auch der Bevölkerung, der besonders die Demokratisierung hervorgehoben hat, während für den slowakischen Teil die Föderalisierung die Priorität hatte, das heißt die volle Anerkennung der politischen Identität des slowakischen Volkes. In der tschechischen politischen Tradition gab es das Element einer gewissen nationalen Überheblichkeit, die die Slowaken als einen Stamm des tschechischen Volkes betrachtet, der infolge seiner langjährigen Einschließung in das ungarische Empire wirtschaftlich, sozial und kulturell irgendwie zurückgeblieben ist. In der tschechischen politischen Kultur ist die volle Anerkennung der Eigenständigkeit der Slowakei erst später zur Geltung gekommen. Selbst die Kommunisten, wie Gottwald, haben nach der Befreiung vor allem die Einheit des Staates hervorgehoben und die Eigenständigkeit der Slowakei eher als eine Art lokaler Autonomie konzipiert. Und das alles hat dazu geführt, daß sich der slowakische Teil der Partei selbst für die Föderalisierung eingesetzt hat. Die Föderalisierung ist das einzige, was von dem Prager Frühling zurückgeblieben ist. Wenn auch bürokratisch deformiert, stalinistisch-bürokratisch. Mit Husak ist ein Slowake an die Spitze der Partei getreten, mit Bilak ist ein Slowake als der Hauptideologe der Partei erschienen. Man hat andererseits in der föderalistischen Struktur nicht die Errichtung einer tschechischen kommunistischen Partei bewilligt, denn man hatte erwartet, daß sie unter dem Einfluß des Prager Frühlings geblieben war. Deswegen haben wir jetzt eine andere Asymmetrie: Wir haben zwei Republiken, wir haben eine Kommunistische Partei der Slowakei, aber wir haben keine kommunistische Partei in den tschechischen Ländern, das ist hier die föderale Partei mit den Tschechen und Slowaken an der Spitze in der Parität. Interview: Milan Horace

und Alexander Smoltczy