Die Romantiker und die Skeptiker der Hoffnung

■ Was in Paris nur an den Wänden stand, war in Prag schon Realität: Die Phantasie war an der Macht. Die mangelnde Klarheit der Ziele Dubceks ermöglichte, daß die Intellektuellen das Tempo der Reformen angaben

Matthias Geis

Als der konservative Chefideologe der KPC, Jiri Hendrich, am 28.Juni 1967 den Kongreß der tschechoslowakischen Schriftsteller verläßt, um seinen Parteichef Antonin Novotny auf Maßnahmen gegen die rebellierenden Intellektuellen einzustimmen, ahnt er nicht, daß die letzte Etappe seiner politischen Karriere begonnen hat. Auch die im Saal zurückbleibenden Schriftsteller, die drei Tage lang die bornierte Kulturpolitik der Partei einer Kritik unterzogen, wissen nicht, daß sie den Prolog zu einem reformkommunistischen Experiment gegeben haben, dessen fieberhafte Dynamik und Radikalität auch in Zeiten Gorbatschows seinesgleichen sucht. Hendrichs Offensive gegen die unbotmäßigen Schriftsteller geriet zum Pyrrhussieg der Dogmatiker: Im Schatten der einstimmig beschlossenen Repressalien sammelt sich die innerparteiliche Opposition zum Gegenschlag, und im Januar übernehmen die Reformer unter Dubcek die Macht.

Damit beginnt - einem Moskauer Verdikt zufolge - „die große Konterrevolution der Intellektuellen“ - „die intellektuelle Revolution“, wie wohlmeinendere Kommentatoren die Dubcek-Ära charakterisieren. Beide Wertungen treffen sich in der Betonung der zentralen Rolle der Intelligenz während des Prager Frühlings: Als Katalysatoren der jahrzehntelang aufgestauten Unzufriedenheit; als Sprecher wie Organisatoren einer kontrollierenden, kreativen, aber auch emotionalisierten Öffentlichkeit; als Inspiratoren und Visionäre eines demokratischen Sozialismus, dessen Verwirklichung nicht zuletzt an den inneren Widersprüchen der Reformintelligenz scheiterte. Denn die Chance einer fundamentalen Erneuerung löste in den Köpfen tschechischer Schriftsteller andere Assoziationen und Hoffnungen aus, konkretisierte sich in anderen Forderungen als etwa in den Köpfen marxistischer Wissenschaftler. Träumten die einen beispielsweise von der Wiedergewinnung nationaler und kultureller Identität, der „Rückkehr nach Europa“, der Wiederbelebung liberaler, demokratischer, pluralistischer Traditionen der Vorkriegsrepublik, so erhofften andere die Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Stagnation, kalkulierten die Handlungsspielräume zur „allmählichen Transformation der totalitären Diktatur“ in eine sozialistische Demokratie. „Die Hoffnung braucht ihre Skeptiker und auch ihre Romantiker“, schrieb Oldrich Danek zu einem Zeitpunkt, als noch kaum absehbar war, daß sich schwärmerisch-radikale Utopie und nüchternes Reformkalkül zu konkurrierenden, letztlich unvereinbaren Strömungen des Prager Frühlings entwickeln würden. Produktives Vakuum

durch Führungsschwäche

Daß die tschechoslowakischen Intellektuellen zu einer bestimmenden Macht im Reformprozeß werden konnten, verdankt sich wesentlich der zögerlichen und unkoordinierten Politik der Dubcek-Führung in den ersten Wochen. Sie signalisierte ihren Willen zu tiefgreifenden Veränderungen in Partei und Gesellschaft, ohne zugleich Richtung, Reichweite und Tempo zu präzisieren. Mit vagen Absichtserklärungen erzeugte sie ein produktives Vakuum, das reformsinnige Schriftsteller, Journalisten, Philosophen und Wissenschaftler alsbald auszufüllen begannen. Mit der faktischen Aufhebung der Zensur erhielten sie eine Tribüne, die sie virtuos nutzen und bis zum gewaltsamen Ende des Prager Frühlings nicht mehr verlassen würden: Innerhalb weniger Wochen wandeln sich Presse, Rundfunk und Fernsehen von Sprachrohren der Parteilinie zu Organen pluralistischen Meinungsstreits. Spontane Kundgebungen und Versammlungen sind an der Tagesordnung. Die Verbandszeitschriften der Journalisten und Schriftsteler, 'Reporter‘ und 'Literarni listy‘ - letztere mit einer Auflage von über 300.000 - entwickeln sich zu Organen der radikalen Intellektuellen. Im Februar '68 formuliert der Philosoph Ivan Svitak: „Die Intellektuellen dieses Landes müssen den Anspruch erheben auf die Führung einer sozialistischen Gesellschaft zu Demokratie und Humanismus.“ Solche Visionen und die Forderungen nach vollständiger Aufklärung der Verbrechen der Stalin-Ära, Rehabilitierung der Opfer und Rücktritt belasteter oder reformfeindlicher Funktionäre finden in der jahrzehntelang totalitär verwalteten Bevölkerung enthusiastische Aufnahme. Keine halbherzigen Lösungen

Die kulturrevolutionär anmutende Entwicklung und die konkreten Erfolge der mobilisierten Öffentlichkeit Rücktritt Novotnys als Staatspräsident, beginnende Rehabilitierung - beflügeln auch die Forderungen zur Reform des politischen Systems. Gewarnt wird vor halbherzigen Lösungen. Die klare Alternative - so der Schriftsteller Jan Prochazka - heiße „Totalitarismus oder Demokratie„; sein Kollege Alexander Kliment konkretisiert: „Freie Wahlen. Ein funktionierendes Parlament mit Opposition.“ Vaclav Havel fordert die „zweite politische Partei als würdigen und autonomen Partner im Wettstreit um die Macht“. Damit ist der Konflikt zwischen radikalem und moderatem Reformflügel vorprogrammiert. Er entwickelt sich nicht am Votum für oder gegen ein sozialistisches System, sondern an der Frage nach dessen politischen Formen und dem Weg ihrer Realisierung. Die Forderung nach Parteineugründungen und Elementen einer Demokratie westlicher Prägung waren mit Blick auf die parlamentarische Tradition der Vorkriegsrepublik historisch verständlich; für die Durchsetzung des Demokratisierungsprozesses waren sie eher hinderlich: sie beschleunigten die Polarisierung der Reformer und mobilisierten die Konservativen in der Partei. Als Sofortforderungen zur Reform einer stalinistischen Diktatur zeugten sie zudem von der Realitätsferne ihrer Autoren. Wurde die moralische Legitimation des Parteimonopols durch die Enthüllungen der stalinistischen Prozesse tagtäglich ad absurdum geführt, so blieb es eine objektive historische Tatsache - in Form eines zentralistischen Apparates, der seit 20 Jahren alle gesellschaftlichen Prozesse steuerte. Keine pluralistische Zauberformel, sondern nur reformbereite Kommunisten an den zentralen Schaltstellen würden - mit breiter Unterstützung, im günstigsten Falle - eine schrittweise Umstrukturierung in Gang setzen. Gemäßigtes

„Aktionsprogramm“

In diesem Rahmen bewegten sich die Vorstellungen der moderaten Reformintelligenz. Sie gewann weitgehenden Einfluß auf die Parteilinie, wie sie im „Aktionsprogramm“ der KPC festgelegt wurde. Dessen Verfasser, der Philosoph Radovan Richta, der Ökonom Ota Sik, der Jurist Zdenek Mlynar und einige andere, die bereits seit den frühen sechziger Jahren an Reformkonzepten arbeiteten, unterstrichen die Notwendigkeit einer konsequenten innerparteilichen Demokratisierung und bekräftigten zugleich den Führungsanspruch der Partei. Proklamiert wurde ein „breiter Spielraum der gesellschaftlichen Initiative, offener Meinungsaustausch und Demokratisierung des gesamten gesellschaftlichen und politischen Systems“. Erste gesetzliche Regelungen wurden in Aussicht gestellt. Sie sollten umfassende Rechtssicherheit, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, freie Meinungsäußerung und restriktive Kontrolle der Sicherheitsorgane gewährleisten. Die konsequente Realisierung der im Aktionsprogramm enthaltenen Ansätze hätte nicht weniger bedeutet als die Entflechtung von Partei, Staat und Wirtschaft, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit - eine bis dahin beispiellose Perspektive einer regierenden kommunistischen Partei.

Während die gemäßigten Kräfte ein behutsames Vorgehen im Rahmen der gegebenen Verfassungsordnung und unter Berücksichtigung innerer und äußerer Machtverhältnisse proklamierten, hatte die rasante gesellschaftliche Diskussion den Reformentwurf schon bei dessen Verkündung im April weit hinter sich gelassen. Die Orientierungslosigkeit der Dubcek-Führung unmittelbar nach dem überraschenden Machtwechsel, die zögernde Auswechslung der Reformgegner, die hinausgeschobene Verabschiedung des Aktionsprogramms begannen jetzt Wirkung zu zeigen. Die Öffentlichkeit war zu einem Machtfaktor geworden. Die kursierenden Forderungen nach einem schnellen Bruch mit den Vor-Januar-Verhältnissen

-Motto: „Keine Demokratisierung, sondern Demokratie“ brachten die pragmatische Linie zunehmend in Mißkredit.

Beispielhaft für diese Entwicklung ist das von namhaften Intellektuellen getragene Manifest „2.000 Worte“ des Schriftstellers Ludvik Vaculik. Er beklagt den Stillstand der Reform und die durch das halbherzige Vorgehen schwindende Hoffnung. Als forcierende Maßnahmen werden Resolutionen, Demonstrationen, Streiks und die Bildung von Bürgerausschüssen empfohlen. Die zunehmende Entfremdung zwischen den Reformflügeln verdeutlicht die Entgegnung Zdenek Mlynars, der die angedrohten Boykottmaßnahmen als „Bestrebungen zur Zersetzung der staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen“ charakterisierte.

Als sicher kann gelten, daß Vorschläge und Visionen der Radikalen und ihre Dominanz in den Medien den Handlungsspielraum der Dubcek-Führung erheblich einschränkten: Sie verschlechterten die Verteidigungsposition gegenüber Moskau und bestärkten dessen Statthalter im Land bei der Torpedierung der Reform. Nur eine Forcierung und Sicherung des Reformkurses durch die vorgezogene Einberufung des Parteitages und eine von Mlynar vergeblich geforderte begrenzte Zensur hätten die Dubcek -Führung möglicherweise noch einmal aus der fatalen Defensive gegenüber radikalen Gegnern und Verfechtern der Reform befreit. Wie dem auch sei: deren Intervention und der Moskauer „Normalisierung“ fielen Skeptiker wie Romantiker des Prager Frühlings gleichermaßen zum Opfer.