„Also haben sie es doch getan...“

■ Das Frühlingserwachen des kleinen erweckt oft den Zorn des großen Bruders. Zu keinem Zeipunkt konnte Dubcek auf ein Nachgeben des Warschauer Pakts hoffen

Klaus-Helge Donath

Spät abends am 20.August. Das elfköpfige Parteipräsidium der KPC diskutiert seit mehreren Stunden die Materialien des für den 9.September anberaumten XIV. Parteitages. Durch Auswechselung der stalinistischen Macht und Funktionselite - die sich selbst mit dem Euphemismus „Altkommunisten“ umschreibt - soll der Kongreß für eine endgültige Stabilisierung des Reformkurses sorgen. Kurz vor Mitternacht wird Ministerpräsident Oldrich Cernik ans Telefon im Nebenzimmer beordert. Verteidigungsminister Martin Dzur, schon in der Obhut sowjetischer Offiziere, teilt ihm den Einmarsch der Truppen der Warschauer-Pakt -Staaten (ohne die Rumänen) aus allen angrenzenden Bruderländern mit. Bestürzung und Ratlosigkeit im Präsidium. Nur die Mitglieder Bilak, Kolder, Svestka und Rigo, sie galten schon seit längerem als U-Boote Moskaus, mußten von dem genauen Zeitpunkt der Intervention gewußt haben. Ihr Auftrag lautete nämlich, noch in jener Präsidiumssitzung alle Weichen zu stellen für eine „revolutionäre Arbeiter und Bauernregierung“, die die Okkupatoren am nächsten Morgen den Tschechoslowaken und der Weltöffentlichkeit als rechtmäßige Nachfolgerin, auf deren Hilferuf sie erschienen wären, präsentieren wollten. Das Vorhaben mißlang. Vasil Bilak war sich seiner Judasrolle bewußt. Er hastete, so beschreibt es der damalige ZK-Sekretär Zdenek Mlynar, aufgescheucht durch die Reihen und rief seinen Genossen zu: „Also lyncht mich doch! Warum erschlagt ihr mich nicht?“ Keiner beachtete ihn.

Alexander Dubceks erste, resignative Reaktion dagegen „Also haben sie es doch getan - und das konnten sie mir antun!“ resümiert die tragische Fehleinschätzung der verantwortlichen Reformkommunisten im Umgang mit Moskau und seinen Getreuen. Die Warnschüsse aus den osteuropäischen Hauptstädten, seit Mai dichter und gezielter, wurden von der Dubcek-Führung konsequent verdrängt. Dafür gab es mehrere Gründe: die biographische Affinität vieler Reformer zu Moskau, sie hatten dort gelebt, studiert oder sogar in der Roten Armee gedient, die völlige Ausblendung der sowjetischen Großmachtkontrolle - bis Ende Juli '68 befaßte sich kein wissenschaftliches Institut mit Fragen sowjetischer Außenpolitik - und nicht zuletzt die mangelnde Alternative zu den Reformen, deren Rückschrauben innenpolitisch kaum noch durchsetzbar gewesen wäre. „Es sind keine

inneren Angelegenheiten“

Im Februar weilten die Paktköpfe zu den 20jährigen Inthronisierungsfeierlichkeiten der KPC in Prag. Erste Mißhelligkeiten zeichneten sich ab. Im März wurde Dubcek zum Rapport nach Dresden bestellt. Wenige Wochen später kam es zu einer sowjetisch-tschechoslowakischen Begegnung auf höchster Ebene in Moskau. Die Sowjets drangen auf die Beseitigung der „anarchistischen“ Tendenzen und ließen durchblicken, daß die Vorgänge in der CSSR nicht mehr nur innere Angelegenheiten seien. Kurz danach trafen sich die Führungen der Fünf in Moskau. Ulbricht und Gomulka sollen auf eine Stationierung ihrer Truppen in der CSSR gedrungen haben, und tatsächlich fuhr wenige Tage später eine sowjetische Militärdelegation nach Prag. Manöver wurden für die zweite Junihälfte auf tschechoslowakischem Territorium vereinbart, erste Einheiten überschritten die Grenze aber schon Ende Mai und verließen das Land erst Anfang August, vier Wochen nach offiziellem Manöverende. Um Zweifel bei den Verbündeten auszuräumen, soll Dubcek dieses Manöver selbst angeregt haben.

Im Juli spitzte sich die Lage zu. Auf einer Blitzkonferenz formulierten die Fünf eine Kampfansage an die Reformer und forderten sie zu einem Gipfeltreffen auf. Prag lehnte ab. Moskau rang sich zu einem bilateralen Treffen in der UdSSR durch, doch die Prager wollten ihr Land nicht mehr verlassen. Daraufhin reiste das Politbüro der KPdSU nach Cierna nad Tisou, einem kleinen tschechoslowakischen Ort an der Grenze zur Sowjetunion. Die Verhandlungen zogen sich länger hin als erwartet, brachten in der Substanz keine Veränderungen. Beide Seiten vereinbarten noch ein gemeinsames Pakttreffen für Anfang August in Bratislava. Zweigleisige

Einschüchterung

Die Einschüchterungsstrategie verlief zweigleisig: Diffamierten die Propagandazentralen in Ost-Berlin, Warschau und Moskau die Demokratisierungsbemühungen Prags, so zielten die in rasanter Folge abgehaltenen bi- und multilateralen Verhandlungen auf eine konzessionslose Preisgabe jeglicher Reformen. Nie hatte die kommunistische Presse zuvor - mit Ausnahme des abtrünnigen Titos und des chinesischen Schismas - mit solcher ungeschminkten Härte die politischen Vorgänge in einem Bruderland denunziert, die Führung der heimlichen Duldung konterrevolutionärer Umtriebe bezichtigt, deren Pakttreue öffentlich in Zweifel gezogen und namhafte Vertreter in die Nähe revanchistischer Handlanger Washingtons gerückt.

Die Einseitigkeit der Interessenlage, Moskaus Kompromißlosigkeit und Bereitschaft zum Bruch mit der Prager Führungsgarde offenbarten sich sehr schnell in der ungewohnten Praxis, Partei- und Regierungsvertreter in den Medien namentlich anzugreifen. Den Auftakt hierzu leistete SED-Chefideologe Kurt Hager: Josef Smrkovsky, einen führenden Kopf des Frühlings, machte er zum Steigbügelhalter der westdeutschen Springer-Presse. Der propagandistischen Vorreiterrolle der DDR korrespondierte ihre unzweideutige Interessenlage, die sich von Anfang an gegenüber der Polens, Ungarns und der Sowjetunion unterschied. Die DDR als innenpolitisch rigidestes System sah durch die Prager Entwicklungen die Legitimation ihres Herrschaftsanspruchs schwinden. Die Führung setzte getreu stalinistischer Manier ihren Machterhalt mit den fundamentalen Wesenszügen des Sozialismus gleich. Die Prager Thesen, nach denen die Partei sich ihren Führungsanspruch in der Gesellschaft immer wieder neu zu verdienen habe, mußte auf die Pankower wie Häresie wirken. Zusätzliche Verunsicherung barg die spontane Beifallsbekundung prominenter DDR-Intellektueller, allen voran Robert Havemann. Und wie sollte die DDR mit einer zur BRD offenen CSSR-Grenze umgehen, etwa eine zweite Mauer bauen? Erst im Mai

fiel die Entscheidung

Die Haltung Polens zeigte sich zunächst ambivalent, eine grundsätzliche Ablehnung aller Reformen läßt sich den Verantwortlichen nicht nachsagen. Doch die Studentenunruhen im April sorgten für ein Einschwenken auf den harten Moskauer Kurs.

Demgegenüber begriff Janos Kadar den Prager Vorstoß als eine Chance, um den reformerischen Handlungsspielraum für Ungarn auszuloten. Die Vehemenz der Vorgänge in der CSSR und die unmißverständlichen Reaktionen aus Moskau ließen ihn jedoch zunehmend um seine eigenen - auf die Wirtschat begrenzten - Reformen fürchten. Seine Distanz zu den sowjetischen Falken und seine ehrlichen Vermittlungsanstrengungen dokumentieren Kadars Worte zu Dubcek wenige Tage vor dem Ende: „Wißt ihr denn wirklich nicht, mit wem ihr es zu tun habt?“

Während Bulgarien in völligem Einklang mit Moskau handelte, unterstützte Rumänien die CSSR vorbehaltlos. Allerdings lief Ceausescus Kalkül mehr auf den Gewinn innenpolitischer Handlungsfreiheit hinaus, die er nicht gerade im Sinne der Prager Vorstellungen zu nutzen gedachte.

In Moskau stand die militärische Lösung nicht von Anfang an auf der Tagesordnung. Erst im Mai soll sich die Interventionsbereitschaft durchgesetzt haben. Gerüchten zufolge herrschte auch im Politbüro der KPdSU Uneinigkeit über das Vorgehen zwischen Falken, die sich um Gromyko geschart hatten, und jenen rationaleren Kräften, die ihren Aufstieg den Veränderungen Chruschtschows zu verdanken hatten. Letztlich siegten die Weltmachtinteressen, wie sie ihren ideologischen Kulminationspunkt in der Breschnew -Doktrin fanden. Sie begrenzten die Souveränität der sozialistischen Länder im Falle einer Bedrohung ihrer 'Errungenschaften‘ und erhebt deren Schutz zur „gemeinsamen internationalen Pflicht aller sozialistischen Länder“. Demgegenüber bestand die Dubcek-Riege aus der „völligen Souveränität bei der Lösung unserer internen Fragen“. Doch schaffte es Dubcek nicht, die internen Angelegenheiten offensiv nach außen hin zu vertreten und richtete sich in der Defensive ein. Vielmehr glaubte er - was einem Marxisten nicht unterlaufen dürfte - eine konsequente Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik durchhalten zu können. Dubceks Tanz

auf zwei Hochzeiten

Regierung und Partei entglitt der Zugriff auf den Konflikt fortlaufend. Verlangten die Bündnispartner ein härteres Vorgehen und Beschneiden der Reformen, reagierte die gerade von der Zensur befreite Öffentlichkeit in der CSSR mit spürbarem Unwillen, der sich nicht selten in antisowjetischen und bündnisfeindlichen Äußerungen Luft verschaffte. Dies wiederum reichte den Paktstaaten, um die Daumenschrauben fester anzuziehen. Die ständigen Bekenntnisse Dubceks zu Sozialismus und Bündnistreue, so ehrlich sie gemeint waren, konnten auf diesem Hintergrund durch die Ostblockstaaten als nicht ausreichende Garantien abgetan werden. Und für die Öffentlichkeit im eigenen Land genügte es, um wenigstens eine gewisse Legitimation für repressives Auftreten zu erhalten. An eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Reformen, einem Zugeständnis Moskaus gar war zu keinem Zeitpunkt zu denken, schließlich ging es um den Erhalt des machtpolitischen status quo. Ein Umstand, den die Prager Spitze einfach nicht in ihr politisches Kalkül miteinbezog. Kaum zu glauben, aber mehr als 30 Jahre nach der III. Internationale sahen viele Kommunisten in der UdSSR immer noch den missionarischen Kopf des Weltkommunismus, dem an einer Vermenschlichung des Sozialismus hätte gelegen sein müssen. Daraus erklärt sich auch, warum die CSSR Hilfsangebote einflußreicher kommunistischer Parteien im Westen ausschlug und nicht, wie Rumänien, eine bilaterale Bündnispolitik verfolgte, die Moskaus Zugriff erschwert hätte. Schon am 19. August war Washington über die geplante Invasion unterrichtet, oder besser: verständigt worden.