Als der Sozialismus sein Gesicht verlor

 ■ EDITORIAL

Kein Feiertag, keine Revolution. Am zwanzigsten Jahrestag der Invasion in der Tschechoslowakei wird nichts passieren. Nicht in diesem Jahr provokativer Geburtstage. Denn neben dem Prager Frühling als jüngstem Jubilar feiert auch der mit 40 Jahren arg in die Midlife-crisis gekommene „Endgültige Sieg“ des Sozialismus in der CSSR und die nun 70jährige Großmutter der Nation, die 1918 selbstständig gewordenen bürgerliche tschechoslowakische Republik einen runden Jahrestag. Da ist eher mit weiteren Enttäuschungen und Verschärfungen zu rechnen.

Doch 1978, als der Prager Frühling das kindliche Alter von zehn Jahren erreichte, sah es noch trostloser aus. Eine Woche lang wurden die wichtigsten Reformer und Oppositionellen in der CSSR in Vorbeugehaft genommen, in jedem Dorf ein Sicherheitskomitee gebildet. Auf dem Flughafen in Prag übten tausende Milizionäre, wie man Demonstranten niederknüppelt. Doch nichts passierte. Die Gesellschaft hatte sich aus der Politik verabschiedet, und die Reformpolitiker von einst trauerten um ihre Reformen, für die es partout in dieser Zeit keine Hoffnungen gab. Der Sozialismus mit menschlichem Antlitz legte sein Gesicht in Kummerfalten.

Heute ist alles anders, keimt die Hoffnung unter den Pensionisten, Freude kommt auf über den einstigen Reformkiller Sowjetunion. Ausgerechnet die, die das menschliche Bild des Sozialismus zertreten haben, fordern nun Gutachten der linken tschechischen Wirtschaftsgurus von einst an. Die Verstummten werden wieder gefragt. Plötzlich sollen Genossenschaften und die Dezentralisierung zur Emanzipation beitragen, soll die Presse frei sein, sollen Marktmechanismen greifen - wie einst. Es ist die Fortsetzung der tschechischen Reform mit eigenen sowjetischen Akzenten. So scheint es.

Wird der „andere“ Sozialismus, der in Europa heimatlos geworden ist, noch einmal von der großen Mutter Sowjetunion adoptiert? Immerhin ist sie die einzige, die mit ihrer Gesellschaft noch die Chance hätte, dem Sozialismus sein menschliches Gesicht zurückzugeben. Fern aller europäischen und asiatischen Informationsströme, fern von den kapitalistischen Einflüssen der Werbung und der Warenkonkurrenz hat sich die sowjetische Gesellschaft noch einen Enthusiasmus bewahrt, den Gorbatschow nun zur Jagd nach Emanzipation entflammen könnte. Oder ist es auch dort zuspät? 1968 sammelten die Tschechoslowaken Geld für die Reform. Heute ist die einzige Massenbewegung in der Sowjetunion von einem wachsenden Chauvinismus gespeist und trägt den Namen „Pamjat“. Linken Fortschritt tragen einzig ein paar Intellektuelle und Presseleute. Das war in Prag anders. Hört die Gesellschaft überhaupt noch auf die Pfeifen der Macht im Kreml? In anderen ostmitteleuropäischen Staaten tut sie es längst nicht mehr. In der CSSR ist es nicht anders. Wenn wir uns ausschließlich der Macht ganzer Pulks von Berufspolitikern in den Parteiapparaten widmen, bleiben wir weit unterhalb des Problems stehen. Wir schauen angespannt zu, lauschen und lesen zwischen den Zeilen, wie Gorbatschow oder sein tschechoslowakischer Kollege Jakes mit Wörtern und Formulierungen balancieren. Ob die Prawda heute lobend, morgen richtend über Stalin hinwegzieht, welche Sekretäre aus dem ZK der KPdSU für Dubcek oder nun gegen den alten Husak intrigiert haben, und nicht zuletzt, wer den neuen Chef am meisten beeinflussen kann.

Doch wesentlich relevanter ist, was sich hinter dieser tönenden Kulisse in der Gesellschaft entwickelt. Hier und nicht auf den Fluren der vielen Sekretariate wird auf lange Sicht die entscheidende Umwälzung stattfinden, auch wenn die realexistierende politische Macht es gern so hätte, sich ein eigenes Volk zu formen, so bleibt sie dennoch letztlich immer auch eine Antwort auf den Zustand der Gesellschaft und hat in ihr ihre Wurzeln. Selbst jede noch so willkürlich herrschende Macht ist die Macht von jemandem.

So gesehen steht die Sache nicht gerade zum besten. Die KPTsch besteht heute aus einem Haufen verkrüppelter politischer Subjekte, die um der eigenen Macht und Breschnews Doktrin willen dem großen Bruder zwanzig Jahre lang jeden Willen kommentarlos von den Lippen abgelesen haben, ganz im Gegensatz zum ungarischen Nachbarn, der mit dem Gulaschkommunismus die Sozialdemokratie unter der Decke einführte. Nun plötzlich bekommen diese kränkelnden Subjekte ein wenig Autonomie in die Hand und fürchten schon um ihre Macht. Während Jakes einerseits ganz im Sinne des noch nicht ganz abgestreiften Personenkults Gorbatschow verbal imitiert, wenn er über Restrukturierung und Demokratisierung plaudert, so scheint es doch andererseits, seine Mitmachthaber hätten Milos Jakes nur entthronisiert, um einen frischen und ihnen glaubwürdigen Garanten dafür zu haben, daß sich ein solcher Wechsel gerade nicht vollzieht. Eine Garantie, die Alt-Staatspräsident Husak als unter Stalin eingekerkerter „bürgerlicher Nationalist“ und Widerstandskämpfer gegen das Deutsche Reich niemals hat bieten können.

Betrachtet man dagegen das untergetauchte Innere der Gesellschaft, kann man eigentlich auf vieles hoffen, auch auf Bewegung - nur nicht auf linke Reformen. Der Graben zwischen den völlig beziehungslos nebeneinanderstehenden Welten, der offiziellen Ideologie einerseits und der realen Stimmung der Gesellschaft andererseits, wird tiefer und unüberbrückbarer. Die Tschechen und Slowaken frönen einem Hedonismus. Ihr kollektives gesellschaftliches Ziel ist die Befriedigung individueller Bedürfnisse. Diese realen Interessen reichen von der Sucht nach neuester westlicher Elektronik bis zum Begehren von Samisdatlektüre, von der Ausübung aller möglichen Hobbies, die die Staatsmacht toleriert, bis zur Entwicklung diverser Subkulturen, vom weitverbreiteten Westfernsehen bis zur Diskussion von Allerweltsthemen in den schummrigsten Bierhallen. Dieses Konglomerat von Interessen entwickelt sich außerhalb der Korridore, auf denen sich heute noch die politische Macht tummelt. Auch außerhalb der Dissidentenwelt, dieser Insel der Intellektuellen.

Heute wie 1968 istsie der Nabel der Staatssicherheit. Die mangelnde Solidarität der Gesellschaft mit ihr zeigt zugleich die „unglaubliche Irrelevanz (Vaclar Havel) der Argumente, mit denen Charta 77 und andere umgehen. Sie bewegen sich und die Auslandspresse, aber sonst nicht viel. Die Grundlinie, auf der die Meinung der Gesellschaft steht, ist das einfache Gefühl, daß eine Aussöhnung mit der wie auch immer modifizierten herrschenden Ideologie nicht in Frage kommt. Die einzige Alternative, die Gesellschaft wieder in das politische Spiel mit einzubinden, ist die Schaffung von politischem und wirtschaftlichem Pluralismus ohne die leitende Rolle der KPTsch.

Dabei wächst mit der Lust an weiterem Konsum auch die Bereitschaft, eine Zwei-Drittel-Gesellschaft in Kauf zu nehmen, wie sich sich in Ungarn und Polen langsam entwickelt. Denn viele werden ausgeschlossen von den Früchten der Wirtschaftsliberalisierung. Noch glaubt keiner, sich dann im unteren Drittel wiederzufinden, zusehr lockt das weitere Glück der Individuen. Und nur dies ist der real existierende gesellschaftliche Maßstab für Veränderungen. Vielleicht war 1968 die letzte Chance des realen Sozialismus, eine von der Gesellschaft getragene politische Kultur zu entwickeln. Der 21.ust - kein Feiertag und keine Revolution.

Andre F.Simone