Mit Pfeil und Bogen ins neue Leben

Rainer Schneider, Weltmeister der behinderten Bogenschützen: tägliches Training vor dem achtstündigen Wettkampf / Viele Behinderte sind Mitglieder in herkömmlichen Vereinen  ■  Von Ralf Köpke

Siebzig Bogenschützen stehen Körper an Körper, Rollstuhl an Rollstuhl unmittelbar vor der Startlinie. Jeder Bildhauer hätte Freude an dieser Pose, wie sie alle ihren Bogen vollkonzentriert und in absoluter Stille für den nächsten Schuß angespannt halten. Und plötzlich überschlagen sich die akustischen Wahrnehmungen: Lag gerade noch ein Zirren in der Luft, als die Pfeile von den Sehnen schnellten, so wird die dann folgende Stille, die ungefähr zwei Sekunden dauert, durch ein deutliches Plop beendet. Mit rund 150 Stundenkilometer bohren sich die Pfeile in die Zielscheiben. Die Pfeile sind aus Karbon, deshalb wenig windanfällig und vom menschlichen Auge in ihrem Flug kaum mehr zu verfolgen.

Um zu kontrollieren, ob der Pfeil ins Schwarze getroffen hat, greift auch Rainer Schneider zum Fernrohr, das an seinen Rollstuhl montiert ist. 144mal hat sich dieser Vorgang bei den bundesdeutschen Meisterschaften der behinderten Bogenschützen am vergangenen Wochenende in Duisburger Stadtpark Wedau wiederholt. Und nach keinem Schuß war im Gesicht des 25jährigen Schwaben irgendeine Regung zu erkennen. Zusammengekauert saß er in seinem Rollstuhl in sich versunken, um sich auf den nächsten Schuß beim über achtstündigen Wettkampf innerlich einzustellen. „Während des Turniers möchte ich völlig abschalten, mich nicht von irgendwelchen Nebengeräuschen stören lassen.“

Einzige Freizeit-Alternative

Das Bogenschießen ist aus dem Leben des Rainer Schneider nicht mehr wegzudenken. „Es ist zu meinem Lebensinhalt geworden“, gibt er offen zu. Das war nicht immer so. Acht Jahre zurück: Bei einem Verkehrsunfall wird Schneider so unglücklich aus dem Auto geschleudert, daß er seitdem ab dem sechsten Halswirbel abwärts gelähmt ist. In der Rehabilitationsklinik kommt er überhaupt zum ersten Mal in Kontakt mit dem Sportgerät Bogen. Er findet Gefallen an dem Sport, fast zwangsläufig, denn in seiner Heimatstadt Langenau bei Ulm bieten sich in der Freizeit für ihn keine Alternativen.

In mühsamer Schwerstarbeit lernte er, mit dem Bogen richtig umzugehen. Dabei mußte er mit einem doppelten Handicap fertig werden: Seit seiner Behinderung kann Schneider die Finger nicht mehr richtig bewegen. Seinen Sport kann er nur mit einer sogenannten Klaue ausüben, einem metallenen Haken, der den Pfeil von der Sehne löst. Wenn er sagt, „die Klaue ist für mich natürlich, da ich das Bogenschießen nie anders erlernt habe“, relativiert Rainer Schneider den harten Lernprozeß. Er verschweigt dabei, daß er durch sein Hilfsmittel den Pfeil nicht in der Mitte der Sehne ansetzen kann und dieser dadurch nicht nur einen Bogen, sondern auch eine „Kurve“ beschreibt. Auch daran hat er sich gewöhnen müssen.

Trotz dieser Handicaps ist es ihm gelungen, sich an die Weltspitze der schwerstbehinderten Schützen zu arbeiten. Der Schwabe ist heute nicht nur amtierender Europa- und Weltmeister, sondern hält auch die Bestleistung mit 1.106 Ringen. Ohne seine Eltern wären Schneider trotz seiner Beharrlickeit und Ausdauer diese Erfolge wohl verwehrt geblieben. Sie betreuen ihn nicht nur beim Training, sondern auch auf allen Turnieren.

Vater Kaspar, Stahlbauschlosser von Beruf, ist auch der „Servicemann“ seines Sohnes. Er konstruierte unter anderem den Schalensitz, mit dem Rainer im Rollstuhl erst den beim Bogenschießen nötigen Halt bekommt.

„Da ich jeden Tag trainiere, fallen mir immer wieder Sachen auf, die man verbessern kann“, sagt Rainer Schneider nicht ohne Stolz. Seine Erfolge basieren zum Teil auch auf diesen Tüfteleien. Selbst sein Bogen ist eine Spezialanfertigung. Den allerdings hat eine Ausrüsterfirma gesponsort - ein Novum bei den behinderten Bogenschützen.

Es ist verständlich, wenn Harald Dannowski, der im Deutschen Behinderten-Sportverband (DBS) als Fachwart für das Bogenschießen zuständig ist, Rainer Schneider zu den Favoriten bei den Weltspielen der Behinderten Mitte Oktober in Seoul zählt: „Eine Medaille kann er ohne weiteres holen.“ Überhaupt sind die elf Aktiven, die der DBS für die „Paralympics“ nominiert hat, alle für eine vordere Plazierung gut. Mit ihren Leistungen können sie auch mit den nichtbehinderten Schützen mithalten. Denn im Gegensatz zu anderen Behindertensportarten kennt das Bogenschießen nur eine Starterklasse (Ausnahme: die Schwerstbehinderten), was sich positiv auf das Niveau aller Schützen auswirkt. Behinderte Bogenschützen sind deshalb in vielen Fällen Mitglieder herkömmlicher Vereine. Und dieses Miteinander funktioniert bestens. Jedenfalls ist Harald Dannowski „nichts Gegenteiliges bekannt“.

Und Rainer Schneider hat seinen Meistertitel in Duisburg verteidigt, fast wie selbstverständlich, zum fünften Mal in Folge.