KULTURIMPERIALISMUS

■ Das Eiszeit-Kino in Szeged, Ungarn

Wir sind nicht prüde wie Sie denken. Ungarn ist ein modernes und progressives Land.“

Genau das hatten wir bereits die ganze Zeit über befürchtet: Der Büffetwagen der staatlichen Eisenbahn, der uns von Budapest nach Szeged transportiert hatte, war hinter der Theke mit Pornobildern übersät, blondes Gift made in West, nimm-mich-oder-ich-freß-dich. Budapest entpuppte sich vor unseren doch nicht ganz so unschuldigen Augen als ein halbseidener Pornoschuppen, der die nackten Tatsachen der Frauen in allen hinlänglich bekannten Formen strapaziert, vom Poster übers Feuerzeug bis hin zum Wandkalender 1988; in der Fürst-Sandor-Straße durchwühlte ich in Konkurrenz mit einigen alten Männern einen Müllcontainer, dessen Inhalt aus pornographischem Hausrat bestand. Fremde Länder, nicht ganz so fremde Sitten, grübeln die leicht irritierten Touristen, noch nicht ahnend, daß die sexuelle „Befreiungswelle“ Ungarns auch über ihre Köpfe hinwegschwappen wird - und das ausgerechnet in Szeged.

Szeged: Die in Harmonie und Ruhe, sprich spießiger Dumpfheit versteinerte Metropole der ungarischen Provinz, deren Fundamente nur alle 100 Jahre mal von einer gigantischen Flutkatastrophe davongespült werden; am Flußufer mahnt daher ein futuristisch anmutendes Metallungetüm an die schönen Schrecken des Wassers. Ein ideales Refugium, um sich zu besinnen und Ausschau zu halten nach der nächsten Flut, von der leider weit und breit nichts zu sehen war. Aber Rachegelüste haben hier nichts zu suchen, trugen wir doch so schon kiloschwer genug die Last einer kulturellen Mission in zwei großen Reisetaschen mit uns rum, beide pickepackevoll mit Filmen in den handlichen Formaten 8 - und 16-mm. Ausstaffiert mit dem hochwichtigen Dokument einer offiziellen Einladung durch die Joszef-Attila -Universität in Szeged an das Eiszeit-Kino Berlin, sahen wir mit freudig rosarot erregten Bäckchen einem dreitägigen Kulturfestival entgegen.

Im nachhinein erscheint es müßig, die dunklen Kanäle ausleuchten zu wollen, die uns dorthin verschlugen, wo wir letztlich strandeten - das wird für immer und ewig ein Geheimnis der ungarischen Kulturbürokratie bleiben! Vielleicht hätten wir dem Organisationschaos im Vorfeld der Aktion etwas mehr Achtung schenken sollen, doch immerhin überraschte uns Jürgen noch am Morgen in Budapest mit der frohen Botschaft: „Wir werden erwartet...“

Was da auf uns wartete, war ein Jugendferienheim vom feinsten, ein gastlicher Betonklotz, häßlich in eine noch üblere Gegend gekotzt, mit steril abwaschbaren Wänden, von denen der Schmand der Langeweile und Öde nicht mal runterzuschmirgeln ist. Wir wurden in der Tat erwartet, nur die in uns gesetzten Erwartungen, wir seien eine Tanzperformance-Truppe aus Berlin-West, konnten wir knapp daneben nicht erfüllen. Die freundliche, aber bestimmt auftretende Lagerleiterin war uns wegen dieses kleinen Handicaps auch nicht allzu böse, immerhin hatten wir ihr was mitgebracht, wofür es keine Verwendung gab, denn Filmprojektor gleich Fehlanzeige. „Wir haben einen Videorecorder“, und rassel rein in den Schlamassel: „Äh... wir haben auch ein Video.“ - „Gut, das können Sie doch dann zeigen.“ - „Nun, es ist etwas... äh... problematisch.“ „Wieso?“ - „Es geht halt so um Sex und Gewalt.“ - „Wir sind nicht prüde wie Sie denken. Ungarn ist ein modernes und progressives Land.“ Mit höflicher Vorsicht, nur nicht beleidigen, erkundigten wir uns dann noch nach dem Alter unseres Zielpublikums: Jugendliche zwischen 20 und 25 Jahren aus der DDR, der Sowjetunion, Polen, der BRD, USA, Holland..., und alle sind sie aufgeklärt!

Inzwischen gab es keinen Rückzieher mehr, in ihren Augen wuchs sichtbar die Ungeduld über diese sich so komisch gebärdenden Westler, wir sagten zu - daß sie dann in den folgenden Tagen keine große Anteilnahme mehr an unserem Schicksal zeigte, ist ihr daher kaum zu verübeln.

Nach einem kleinen Erholungsbummel durch die Szegeder Innenstadt, wobei die örtliche Polizei gleich im Laufschritt hinter uns hereilte, um uns herzlich zu begrüßen, versammelten sich alle um Punkt 8Uhr im Clubraum. Vorher hatte sich eine andere Gruppenbetreuerin noch mal vergewissert, daß wir einen Video über alternative Theatergruppen in Berlin-West zeigen. Wir waren entzückt! Da saß sie nun vor uns, eine 60köpfige Schar junger internationaler Menschen, ein Gruppenbild der Harmlosigkeit; 60 unverbrauchte Seelen, die jeden Morgen um 5 Uhr aus dem Bett gedengelt wurden, um in den 30 Kilometer entfernten Weinbergen ihre Ferienarbeit zu verrichten. Sie hatten ein Recht darauf, gut unterhalten zu werden, und statt dessen erklärten ihnen plötzlich einige dahergelaufene Westler das Wort FUCK, wer Lydia Lunch und Richard Kern sind und was das so mit dem Film „Fingered“ überhaupt auf sich hat... Um es kurz zu machen: Die anschließende Diskussion war eine der interessantesten, die ich jemals in Zusammenhang mit diesem Film erlebt habe, nur getrübt durch die „sprachlose“ Reaktion der Sowjets, die völlig überfordert waren mit dem Gesehenen. Unbestätigten Gerüchten zufolge sah man sie am nächsten Abend den einzigen Striptease-Club in Szeged aufsuchen...

Andreas Döhler