Neue Atomwaffen: Count down läuft

US-Senat billigte Gelder für neue Kurzstrecken-Waffen / Ausdrücklicher Hinweis auf die Zustimmung der NATO-Staaten / Offizielle öffentliche Entscheidung für das ATAMCS-System wahrscheinlich im September  ■  Von Andreas Zumach

Genf (taz) - Die NATO-Staaten haben sich offenbar längst für die Einführung neuer atomarer Kurzstrecken-Waffen entschieden. Nur unter ausdrücklicher Berufung auf die „Unterstützung der NATO-Partner“ bewilligte der US-Senat in der letzten Woche die Gelder für die Entwicklung des „Taktischen Armee-Raketen-Systems“ (ATAMCS). Im Zuge der „Modernisierung“ nuklearer Kurzstreckenwaffen soll dieses System in der Bundesrepublik stationiert werden. Eine solche Entscheidung stünde im Gegensatz zu allen Beteuerungen aus Bonn.

Am Tage des Senatsbeschlusses machte NATO-Oberfehlshaber General Galvin erste Andeutungen über eine „bedeutsame Reduzierung“ der US-Atomsprengköpfe. Nach taz-Informationen soll möglicherweise bereits auf einer NATO-Sondertagung im September der „einseitige Abzug“ von mindestens 1.100 veralteten Sprengköpfen bekanntgegeben werden. Ziel der Aktion: Die Erhöhung der Akzeptanz für die Stationierung der ATACM-Systeme in der Bundesrepublik rechtzeitig vor den Bundestagswahlen. Im Senatsbeschluß heißt es im Kapitel sechs über die Finanzierung neuer Waffensysteme:„Die Nukleare Planungsgruppe (NPG) der NATO bekräftigte kürzlich ihre Unterstützung für die US-amerikanische Entwicklung einer neuen Kurzstreckenwaffe als Nachfolge für die gegenwärtige Lance-Rakete; dies geschah im Hinblick auf eine eventuelle Entscheidung über die Stationierung eines solchen Nachfolgesystems.“

Auf der betreffenden NPG-Tagung am 27./28.April hatte Staatssekretär Rühl vom Bonner Verteidigungsministerium Fortsetzung Seite 6

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jedoch ausdrücklich erklärt: „Hier wird nichts entschieden, auch nichts vorentschieden.“ Als großen Erfolg seiner Washingtonreise hatte Kanzler Kohl noch Ende Februar eine „Verschiebung der Modernisierungsentscheidung“ auf die vor allem Thatcher und Reagan pochten, bekanntgegeben - „bis 1992“.

Im Schlußkommunique des Brüsseler NATO-Gipfels Anfang März war die Frage auf Drängen Bonns offengehalten und das Wort „Modernisierung“ vermieden worden. Wenige Wochen später aber auf der Verteidigungsplanungs-Tagung Ende Mai verabschiedete die Allianz die geheime Streitkräfteplanung bis 1994: nach allianzüblichem Verfahren durch Bekanntgabe der jeweiligen nationalen Streitkräfteziele mit stillschweigender Billigung durch die Bündnispartner. Wie sich Minister Scholz bei Einbringung der ATAMCS-Systeme durch die USA in die gemeinsame Planung verhielt, hat die Bundesregierung bis heute nicht offenbart.

Die in Reagans Haushaltsvorlage zugesicherte „Unterstützung der Bündnispartner“ für diese Systeme war Bedingung des Kongresses bei der Bewilligung von Geldern für die ATAMCS -Entwicklung. Bei der Beschaffung neuer Waffensysteme ist die Entwicklung die entscheidende Weichenstellung.

Seit Bestehen der NATO sind fast sämtliche von den USA in die gemeinsame Streitkräfteplanung eingebrachten Waffen auch entwickelt, produziert und NATO-weit eingeführt worden. Ein förmlicher Stationierungsschluß der NATO wird erst notwendig, wenn der Kongreß Gelder für die Serienproduktion der nuklearen ATAMCs freigeben soll. Der politisch günstige Moment für einen solchen Beschluß lag aus Bonner Sicht bislang im Jahr 1992 - nach der Bundestagswahl.

Da sich dies gegen die USA und gegen Großbritannien nicht durchsetzen ließ, wird jetzt ein Termin möglichst weit vor dem bundesdeutschen Urnengang angestrebt, um die Auswirkungen einer Rüstungsdebatte zu begrenzen. Zur Erhöhung der Akzeptanz neuer Atomwaffen wird es nach Ankündigungen General Galvins im November oder Dezember eine „eigenständige Initiative“ zur Reduzierung der von ihm auf 4.600 bezifferten US-Atomsprengköpfe in Westeuropa geben. Das wäre „populär in Europa, besonders in der Bundesrepublik“. „Bedingung“ so Galvin, sei „die weitere planmäßige Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenwaffen“.

Nach Berechnungen amerikanischer Rüstungsforscher geht es um den Abzug von mindestens 1.100 veralteten Sprengköpfe. Aus bundesdeutschen Diplomatenkreisen verlautet, daß „dieser unilaterale Abrüstungsschritt, ein Montebello II,“ möglicherweise bereits im September auf einer NATO -Sondertagung bekanntgegeben wird.

In Montebello hatte die NATO 1983 den Abzug von 1.400 veralteten Atomsprengköpfen bekanntgegeben und diesen Schritt - angesichts der ab Herbst 1983 stationierten „nur 572 neuen Pershing II und Cruise Missiles“ - als „einseitige Abrüstung“ bezeichnet.