Bemerkungen zu einer „Abrechnung“

■ Nachfragen zu Auseinandersetzungen um die nach dem 17. Januar ausgereisten Oppositionellen / Die Haft als Maßstab / Zweifel an der Lauterkeit der Diskussion

Welches ist das Maß an Gefängnisstrafe, an Freiheitsentzug, das einen Menschen berechtigt, sein Land zu verlassen? Und in wessen Augen berechtigt?: In den Augen jener, die zurück, die im Land geblieben sind.

Muß ein Künstler, der durch seine Arbeit in das politische Geschehen eingreifen will, der hoffte, durch Kunst etwas, sei es auch nicht viel, verändern zu können, auch gleich ein Politiker sein im Sinne eines Einheitspartei-Systems? Denn das ist es, was man all jenen (auch den „Nicht-Künstlern“), die nach der Demonstration vom 17. Januar 1988 die DDR verlassen mußten, und vor allem Stephan Krawczyk und Freya Klier, vorwirft: Verrat an der „Partei“. Obwohl diese „Partei“ keine Partei ist, sondern aus unabhängigen Gruppen besteht, die ihre Unabhängigkeit der DDR-Einheitspartei gegenüberstellen. Es ist der verzweifelte Schrei der Im -Stich-Gelassenen.

Ja, es wird immer schwerer, wenn die Lücken größer werden. Aber berechtigt das, einem Künstler vorzuwerfen, daß er Künstler ist und daß er im anderen Land weiterarbeitet? Meine Zweifel entstehen da, wo Verzweiflung in Brutalität umschlägt, wo eine Sprache des vernichtenden Angriffs, vielleicht auch als Sprache der politischen Vernunft getarnt (aus welcher poltischen Sicht auch immer), die Sprache der menschlichen Vernunft zerschlägt.

Daß Bärbel Bohley und Werner Fischer zurückkehren durften, ist erfreulich. Doch ist das noch nicht der „Tapetenwechsel“, sondern bloß ein bißchen Anstrich auf die Außenfassade des Hauses: Besuch im Westen auf höchster Ebene steht bevor.

Die Reaktionen der Staatsmacht der DDR sind unberechenbar. Deshalb sollte die Rückkehr Bohleys und Fischers nicht als weiteres Argument gegen die (noch) Weggebliebenen verwendet werden. Durch solche brutalen Vorwürfe ist niemand anderem gedient als der Staatsmacht selbst. Es ist meines Erachtens letztendlich ein Beitrag zur Stabilisierung der unheiligen Honecker-Mielke-Allianz.

Wie sollen sich die Ausgebürgerten, die selbst zugegeben haben, daß sie der Rolle, die auf sie zukam, nicht gewachsen waren, noch rechtfertigen beziehungsweise jetzt, nach diesen Angriffen, wehren? In diesem Zusammenhang fällt mir Theodor Kramers Satz ein: „Die Wahrheit ist, man hat mir nichts getan.“ Kramer hat diesen Satz unter ganz anderen Umständen geschrieben. Aber hat man den Ausgereisten wirklich nichts getan? Hat man ihnen zu wenig getan?

Saß mal einer in Untersuchungshaft, wurde ihm was getan. Daß andere längere Haftstrafen zu büßen hatten und trotzdem geblieben sind, kann man achten, aber das ist noch kein Grund, den Spieß umzudrehen und einen Vorwurf daraus zu machen.

Wenn die Dauer der Haft als Maßstab, als Argument in eine Diskussion eingeführt wird, dann erlaube man mir, an der Lauterkeit dieser Diskussion zu zweifeln.

Helmuth Frauendorfer, deutschsprachiger Schriftsteller aus Rumänien, seit Dez. 87 in West-Berlin