ÜBERFLÜSSIG UND SEELISCH NOTWENDIG

■ „Die gute Stube“. Berliner Geselligkeit im 19.Jahrhundert

Die gute Stube“ - der Titel weckt Assoziationen an allzu geruhsame bis spießige Bürgerlichkeit, und die ersten Sätze von Ernst Heilborns Buch scheinen die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen: Von den Schonbezügen ist hier die Rede, die die Hausfrau in einem allabendlichen Ritual über die Möbel breitet, und von der „kalten Pracht“ des im Winter ungeheizten und bis auf wenige festliche Höhepunkte verschlossenen, unbewohnten Zimmers. Aber unbesorgt: Es geht hier um ganz anderes als um eine Apologie des deutschen Wohnzimmers - nämlich um eine kleine Kulturgeschichte des Berliner Salons als des Raumes intellektueller Geselligkeit im späten 18. und 19.Jahrhundert.

Das Buch des Literaturhistorikers und Theaterkritikers Ernst Heilborn ist zuerst 1922 erschienen, zu einer Zeit, als längst das Cafe den intimeren Salon abgelöst hatte. Unüberhörbar ist der nostalgische, aber nie sentimentale Ton dieses Rückblicks auf eine für immer untergegangene Kultur.

Nach 1945 hat zuerst Ingeborg Drewitz mit ihrem 1965 erschienenen Buch über „Berliner Salons“ in breiteren Leserkreisen Interesse für das Thema geweckt, das dann unter dem Stichwort „romantische Geselligkeit“ von den siebziger Jahren an geradezu populär wurde - nicht zuletzt, weil es ohne starke, kluge und gebildete Frauen keine Salonkultur gegeben hätte - eine Ermutigung für alle, die nach Formen geselliger und intellektueller Kommunikation jenseits der traditionellen Geschlechtsrollenverteilung suchten. - (Trotz der sich seitdem häufenden Publikationen zum Thema ist Heilborns Buch nicht überflüssig geworden, und es ist der Edition Sirene sehr zu danken, daß sie es uns jetzt in einem schönen und sorgfältigen Nachdruck wieder zugänglich macht.)

Heilborns einleitender Essay skizziert die Entstehung des Berliner Salons aus der Verbindung von Aufklärung und Romantik, wie sie sich im Kreis um Henriette Herz zum Ende des 18.Jahrhunderts vollzogen hatte. Natürlich widmet er besondere Aufmerksamkeit den Höhepunkten romantischer Geselligkeit in den Salons der Rahel Levin, später Varnhagen, und der Geschwister Mendelssohn - dort stand die Literatur, hier die Musik im Mittelpunkt. Wir werden eingeführt in die Wohnzimmer liberaler Bürger (Duncker) und junger Sozialisten (Lassalle). Schließlich kommt im kleinen Kreis (zu dem Heilborn gehörte) um den Herausgeber der 'Deutschen Rundschau‘, Julius Rodenberg, die Salonkultur und mit ihr eine ganze Epoche zu Ende - an der Schwelle zum Ersten Weltkrieg.

Heilborns Essay ist ein Versuch, den Begriff „Geselligkeit“ genauer zu fassen. „Geselligkeit muß doch noch etwas anderes sein als Unterhaltung? Von Geselligkeit im tieferen Sinne kann wirklich nur da die Rede sein, wo aus den einzelnen Geistigkeiten Gemeinsamkeitsgeist entsteht. Erwärmt durch dieses Gefühl eines erfreuenden, aber kurzen Beisammenseins, beeindruckt durch eine anmutende und trauliche Umgebung, durch Geistesforderung in Geistesparade gedrängt, quellen die einzelnen Geistigkeiten gleichsam über, um aus dem Überfluß an eine gemeinsame Zisterne abzugeben, aus der zu schöpfen nun wieder jedem einzelnen freisteht.“

So zurückhaltend das auch formuliert ist - hier ist das anspruchsvolle Bild eines geselligen, intellektuellen Lebens entworfen, dessen regulierendes Prinzip nicht Konkurrenz ist, sondern wechselseitige Anregung, ein strömendes Geben und Nehmen; nicht Konformismus, sondern die freie Entfaltung des Einzelnen im Umgang mit den anderen, mit Freunden und Fremden. Diese Geselligkeit ist kein Ort der Zerstreuung, sondern der Sammlung, in jeder Bedeutung des Wortes. Die eindrucksvollste Szene, die Heilborn darstellt: „Es ist Sonnabend abend, und bei Rahel Levin hat sich Besuch eingefunden. Die Unterhaltung wird reger. Einer entzieht sich ihr, um für ein paar Augenblicke, aus denen auch eine halbe Stunde werden mag, sich abseits an den Ofen zu stellen. Es ist Schleiermacher, und er kommt eben erst dazu, an die morgige Predigt zu denken. Wie er aber so dasteht, abseits und doch den anderen Befreundeten nahe, strömen ihm die Gedanken zu.“ Abseits ist hier nicht einsames Außenseitertum, Konzentration und Geselligkeit sind keine Gegensätze.

Seinem einleitenden Essay läßt Heilborn neun Kapitel mit Berichten der Zeitgenossen zu den einzelnen Salons folgen. Überwiegend Erinnerungen, einige Tagebuchaufzeichnungen geben abwechslungsreiche und anschauliche Salon-Bilder. Die unterschiedlichen Perspektiven haben den besonderen Reiz, einzelne Protagonisten in immer wechselndem Licht zu zeigen. So erscheint Rahels Mann Varnhagen einmal lächerlich im Zeremoniell der bewundernden Inszenierung seiner Frau, ein andermal so sensibel wie klug, so scharfsinnig wie liebevoll.

Ein besonderer Vorzug der Heilbornschen Einführung und Textauswahl ist, daß uns nicht nur die Atmosphäre, sondern auch die Räume selbst, in denen sie sich entfaltet, vor Augen gestellt werden. Blitzartig erhellen Details uns den fremden Alltag: Die mittlere Temperatur im schwer heizbaren Gartenhaus der Mendelssohns liegt im Winter um 13 Grad. Die selten gewaschenen grau-weißen Gardinen geben Varnhagens „Visitenstube“ „ein schwermütiges Aussehen“. - Hatte Lina Duncker wie immer frühzeitig mit unüberhörbarem „Gute Nacht“ ihre Gäste aus dem Haus gebracht, führte die Unermüdlichen ein schmaler Gartenpfad von der Potsdamer Straße zur Bellevuestraße in die Wohnung Lassalles, bei dem späte Gäste willkommen waren - beide Straßen waren damals abgelegen, draußen vor dem Potsdamer Tor, kaum bebaut mit wenigen Villen in großen Gärten. - In Kuglers Mansardenwohnung, in der sich unter anderen Jakob Burckhardt und Felix Dahn, Fontane und manchmal - als Gast von auswärts - Storm trafen, teilen „frei ins Zimmer gestellte Efeuwände“ die gute Stube in einzelne Lauben.

Aufmerksamen Lesern Heilborns wird nicht entgehen, daß die Salonkultur ihre Entstehung und ihre Vitalität das ganze 19.Jahrhundert hindurch der kleinen Schicht gebildeter Juden - vor allem jüdischer Frauen - verdankt. Diese Tatsache wird in gegenwärtigen Publikationen zu Recht weit eindringlicher betont als 1922. Zu diesem Zeitpunkt konnte der jüdische Autor geselliges und intellektuelles Geben und Nehmen zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland noch als fast selbstverständlich ansehen. 1941 ist der fast 74jährige in deutscher „Schutzhaft“ gestorben - vielleicht durch Selbstmord. Eine kleine biographische Notiz fehlt leider dem Nachdruck seines Buches.

Gundel Mattenklott

Ernst Heilborn: Die gute Stube. Berliner Geselligkeit im 19.Jahrhundert, Edition Sirene, Berlin 1988, 36Mark