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Massenprozeß gegen Devrimci Yol

Türkisches Militärtribunal gegen 723 Angeklagte in der Schlußphase / Plädoyers der Verteidigung / Staatsanwalt fordert 74mal Todesstrafe / Vor internationalen Beobachtern berichten Angeklagte von Folter  ■  Von Kurt Ullusch

Berlin (taz) - Plötzlich regnete es Blumen. Das hatte es in der tristen Halle im türkischen Militärgefängnis Mamak noch nie gegeben. Statt Knüppelschläge durch die neben den Angeklagten aufgebauten Wachmannschaften Blumen aus dem Publikum. Der Coup, von Besuchsdelegationen aus Griechenland, der Schweiz und der BRD geplant und ausgeführt, war ein voller Erfolg. Endlich hatten auch die 723 Männer und Frauen, gegen die in einem der größten Massenprozesse der Türkei seit sechs Jahren verhandelt wird, wieder etwas zu lachen.

Ende letzter Woche ist der Prozeß gegen die größte linke Oppositionsgruppe vor dem Militärputsch 1980, Devrimci Yol (Revolutionärer Weg) in die Schlußphase gegangen. Seit Freitag haben die Angeklagten die Gelegenheit, zu den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft Stellung zu nehmen. Die Anklage ist monströs. Auf 1.800 Seiten haben zwölf Militärstaatsanwälte zusammengetragen, wie die Organisation Devrimci Yol versucht haben soll, „die Herrschaft einer Klasse über eine andere“ zu errichten, wie der zentrale Paragrah des Strafgesetzbuches lautet, auf dem die Anklage basiert. Nachdem anfänglich für 184 Angeklagte die Todesstrafe gefordert wurde, haben die Militärs sich in ihrem Schlußplädoyer damit begnügt, nur noch 74mal hinrichten zu wollen. Über 97 Angeklagte will die Staatsanwaltschaft die lebenslängliche Haftstrafe verhängen, für die anderen fordert sie zwischen fünf und 24 Jahren Haft.

74mal soll in einem Prozeß ein Todesurteil gefällt werden, in dem die Angeklagten von Beginn an keine Chance hatten. So geht es denn auch weniger um individuelle Schuld oder Unschuld einzelner Angeklagter - wie sollte die auch in einem Massenprozeß mit 723 angeblichen Tätern festgestellt werden - als vielmehr um die Abrechnung der Militärs mit einer Gruppe, die relativ erfolgreich den Widerstand von unten propagiert und organisiert hatte. Der Prozeß wird vor einem Militärtribunal abgerollt, obwohl das Kriegsrecht in der gesamten Türkei seit längerem aufgehoben ist.

Den 723 Angeklagten stehen nach Repressionen gegen die Verteidiger insgesamt ganze fünf Anwälte zur Verfügung. Zu Beginn ihrer gemeinsamen Verteidigung, die der Angeklagte Nummer Eins, Oguzhan Müftüoglu, vortrug, wies er darauf hin, daß sämtliche Angeklagten während der U-Haft gefoltert wurden und sechs Gefangene die Tortur nicht überlebten. 66 der Angeklagten sind immer noch in U-Haft, die anderen wurden größtenteils im Laufe des letzten Jahres auf freien Fuß gesetzt, einige schon vor 1987 freigelassen. Ein Teil der Angeklagten ist infolge der Folter nicht mehr verhandlungsfähig, geistig verwirrt und schon vor der Urteilsverkündung zerbrochen. Obwohl die Türkei mittlerweile die UNO-Anti-Folterkonvention ratifiziert hat, reagierte das Gericht auf diese Einlassung nicht. Erst als Müftüoglu mit der politischen Erklärung begann, intervenierte der Vorsitzende Richter. Der Angeklagte möge sich kurz fassen. Starke Proteste im Saal und die Anwesenheit der ausländischen Beobachter führten dann doch dazu, daß die Verteidigung fortgesetzt werden konnte.

Überhaupt scheinen die ausländischen Prozeßbeobachter den Militärs ein Dorn im Auge. Sie werden beschattet, ihre Hotelzimmer durchsucht und ein Dolmetscher vorübergehend festgenommen. Um eine kontinuierliche Prozeßbeobachtung zu gewährleisten, sucht das Türkei-Informationsbüro in Hannover (Tel.: 0511/ 2102007) noch Interessenten für eine Delegation. Die Plädoyers der Verteidigung sind bis Mitte Oktober terminiert. Im Januar sollen die Urteile gefällt werden.

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