Armenien-betr.: "Der große Streik von Eriwan", taz vom 2.8.88

betr.: „Der große Streik von Eriwan“, taz vom 2.8.88

Die Irrationalität des Nationalismus feiert Triumphe und gaukelt sich vor, ein Anschluß der „Schutzburg“ Berg -Karabach könnte den osmanischen Völkermord von 1916 und all das den Armeniern zugefügte Unrecht, auf irgendeine wundersame Weise „heilen“ bzw. „lindern“. Dieser sinnlosen Ersatzforderung wegen soll das mühsam ausbalancierte zwischennationale Gleichgewicht der südlichen Sowjetrepublik schlichtweg preisgegeben werden.

Es ist schon absurd: Wie auch teilweise in Polen stellt ein verspäteter, aus der Vergangenheit sich legitimierender Nationalismus nun die falschen Forderungen an den falschen Adressaten. Und gerade in einem Land, das - anders als das angelsächsische Muster - statt kulturell-sprachlicher Gleichschaltung der diversen Nationalitäten eine Einheit in Vielfalt anstrebte, kommt es jetzt zu einem derartigen nationalistischen Ausbruch. Das Nationalitätenprinzip frißt offenbar seine Väter, tendiert zumindest dazu.

Dies sieht man übrigens auch in Jugoslawien, wo eine sehr weitgehende Denzentralisierung zugunsten der einzelnen Republiken lediglich dazu geführt hat, daß diese Republiken sich nun um jeden Preis voneinander abgrenzen wollen, so daß das Land sich gegenwärtig kaum noch als handlungsfähiger Staat, sondern eher als lockerer Zusammenschuß einiger unabhängiger Kleinstaaten präsentiert.

Daß solche Zersplitterung beispielsweise der EG, deren eigene (ärmere) Mitgliedsstaaten im übrigen kaum noch genügend Souveränität zur Entscheidung über ein Tempolimit besitzen, wohlgefällt, liegt auf der Hand. Und je totaler der Westen seinen eigenen Laden vereinheitlicht, desto mehr pflegt er „die russische Vorherrschaft“, den „serbischen Nationalismus“ usw. anzuprangern. Verlogenheit hoch drei.

Ilona Brennstuhl, Sindelfingen