Unmut im Untergrund

■ Ein Reim auf den alltäglichen Schwachsinn

Du sitzt in der U-Bahn, fährst zum wer-weiß-wievielten Mal die gleiche Strecke, und hinter den Scheiben rauscht das eintönige Dunkel vorbei. Ein massiges Gegenüber hindert dich am selbstverliebten Betrachten deines Spiegelbildes, die nächste Zeitung ist fünf Meter weit entfernt, und dein gutes Buch hast du wieder einmal zu Hause vergessen. Eine innere Unruhe macht es dir unmöglich, bis zum Ziel in einen vorbewußten Zustand zu versinken, und so läßt du deinen reizhungrigen Blick durch den Wagen schweifen.

Da ist es schon geschehen: Deine Augen werden von einer farbigen Fläche angesaugt, und wenige Millisekunden danach hat dein Gehirn die Botschaft entschlüsselt, die dich bis zum Ende der Fahrt nicht mehr loslassen wird: Ja schon der Jäger aus Kurpfalz nahm oft und gerne Bullrich-Salz. Empört über derartige Platitüden wendest du den Blick ab, doch der Zweizeiler hat sich in dir festgebohrt und wird zum gedanklichen Bandwurm.

Du verfluchst den Tag, an dem du lesen gelernt hast und beneidest die Vorschulkinder und Kurzsichtigen und diejenigen, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Als du bemerkst, auf was für ein Maß von Kulturfeindlichkeit dich die Erzeugnisse der Werbebranche bereits herabgewürdigt haben, versuchst du der geistigen Vergiftung mit deinem U -Bahn-Lieblingsspiel zu begegnen: der soziologischen Betrachtung.

Du beginnst mit folgender Fragestellung: Warum diese Kampagne, die Trauung auf Verdauung reimt, ausgerechnet und ausschließlich im Untergrund? Hypothese: Der/die wehrlose U -Bahn-Fahrende soll einen Zusammenhang herstellen zwischen den menschlichen Eingeweiden und dem Bauch der Stadt - das Tunnelsystem in freier Analogie zum Gedärm. Schlußfolgerung: Du bist nichts als ein Molekül der Masse, die die große Stadt täglich sich einverleibt, ein Elementarteilchen im Kreislauf von Transport, Maloche, Poofe, den keine Seele unbeschadet übersteht.

Hier helfen deine Spielchen also nicht weiter, sondern ziehen dich und deine Stimmung nur tiefer Richtung Orkus. Daraufhin entwirfst du deine eigenen Slogans im Stil der anspruchsvolleren Schüttelreime. Ganz zufrieden bist du mit: „Von Melissengeist muß ich pissen meist“, doch dann durchzuckt dich das Geniale: „Sein Magen sich zusammenkrampfte, als er seinen Kragen mampfte“.

Bei dieser Vorstellung, so albern sie auch ist oder vielleicht gerade deswegen, überkommt dich ein Kicheranfall, den du ob der pikierten Blicke der anderen Passagiere mühsam unterdrückst. Deine Laune ist jedenfalls gerettet, und du wagst dich an den letzten Zeitvertreib vor deinem Ziel und läßt andere der gereimten Berliner Lokalspezialitäten aus der Steinzeit der Werbung Revue passieren.

Kernig war doch: „Ich ritze es in Baum und Borke, Kaisers in Berlin ist knorke“. Fragt sich nur: welcher Baum? Und wie war das noch mit Orje, Kulle und der Paechbrot-Stulle? Da hat sich eindeutig zweideutige „Hast du im Verkehr mal Frust, mit Pechbrot kriegst du wieder Lust„ doch tiefer in dein Gedächtnis geprägt.

Das aphrodisische Brot interessiert dich nun aber nicht weiter, denn du bist endlich da und freust dich auf ein saftiges Kebab, das du auch ohne Pillen gut verdauen wirst. Oben angelangt, mußt du noch an einer Reklametafel vorbei, die für deinen Geschmack viel zu gut von einem gewissen Otto spricht, und du denkst bei dir selbst: „Otto? Kann ich nich‘ ab!

sue