„Ein Kelch, den man leert bis zur Neige“

■ Daimler-Benz ist Hermann Mühleisen, langjähriger Betriebsrat für die gewerkschaftsoppositionelle „Plakat„-Gruppe, endlich losgeworden: Er ging in den Ruhestand Ein Gespräch über seinen Kampf für die Würde des Menschen im Betrieb und über seine Hoffnung, kein „Auslaufmodell“ zu sein

Zusammen mit dem jetzigen Bundestagsabgeordneten der Grünen, Willi Hoss und dem Italiener Mario D'Andrea gründete Hermann Mühleisen die gewerkschaftsoppositionelle „Plakat„ -Gruppe. Sie erreichten 1972 bei den Betriebsratswahlen auf Anhieb 28 Prozent der Stimmen und acht Betriebsratssitze, von denen sie fünf Mandate zurückgeben mußten, weil sie nur mit drei Kandidaten angetreten waren. Mühleisen, seit 1949 im Betrieb und seit 1957 IG Metall-Vertrauensmann, wird danach mit der gesamten Gruppe aus der Gewerkschaft ausgeschlossen. 1985 wurde der Ausschluß wegen „gewerkschaftsschädigenden Verhaltens“ vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Dem Erfolg der Liste tut das keinen Abbruch: 1987 erhält die Gruppe bei den Betriebsratswahlen in den Werken Untertürkheim, Hedelfingen und Mettingen von den 38.000 Beschäftigten, davon 22.000 ArbeitnehmerInnen, erneut 27 Prozent der Stimmen.

taz: Du bist nach 37 Arbeitsjahren bei der Daimler-Benz AG in den Vorruhestand gegangen. Läßt dich die Fabrik in Ruhe?

Hermann Mühleisen: Nicht ganz, man kann das nicht einfach abhängen, man beschäftigt sich nach wie vor mit den Problemen, mit denen man nicht fertig geworden ist. Ich denke vornehmlich an Akkordprobleme. Mir kommt das immer wieder so vor, als wenn ich zu wenig getan hätte im Betrieb.

Wenn man von Humanisierung der Arbeitswelt redet, dann meint man meistens nur die körperliche Belastung. Ich kenne sehr viele Arbeitsplätze, wo die eintönige Arbeit zugenommen und die einseitige Belastung schon ein unerträgliches Ausmaß angenommen hat. Was die Arbeitsplätze angeht, wird durch die Arbeitsorganisation die Luft abgelassen, die der Mensch in seinem Arbeitsprozeß noch hatte und dadurch der Streß noch größer. Mit einem Belegschaftszuwachs von zwölf Prozent hat die Daimler-Benz AG allein von 1984 bis 1986 die Produktion um 25 Prozent gesteigert.

Warum haben dich die Kollegen und Kolleginnen immer mit eindeutigen Voten gewählt?

Ich kann das nur dem zuschreiben, daß ich mich immer, wenn es darauf ankam, mit den Vorgesetzten angelegt habe. Ich habe mir dadurch den Respekt verschafft bei den Vorgesetzten und auch bei den Kollegen und Kolleginnen. Es war mir immer eine Lust, einen Vorgesetzten zu erwischen, wenn er Unrecht hat. Wenn er jemand schlecht behandelt hat, konnte ich mich ungeheuer hineinsteigern in diese Dinge.

Die Würde des Menschen ist unantastbar, und ich weiß, daß sie täglich im Betrieb verletzt wird. Das sind genau die Punkte, an denen ich versuche, den Kollegen und Kolleginnen immer bewußt zu machen, daß wir etwas zu verlieren haben im Betrieb, nämlich die Würde. Sie wird jeden Tag mit Füßen getreten in so einem Großbetrieb. Ich denke, daß ohne das Zurückgewinnen der Würde und der Menschlichkeit das Bewußtsein nicht entwicklungsfähig ist, das nötig ist, um Widerstand zu leisten.

Mit welcher Motivation hast du 30 Jahre „beim Daimler“ Gewerkschaftsarbeit gemacht?

Ich habe mich immer als Kommunist verstanden, als Menschen, der mit dieser Gesellschaftsordnung abrechnen will, der sie ändern will. Und ich denke, daß es heute noch, genauso wie früher, nur mit Hilfe der Arbeiter und Arbeiterinnen möglich ist. Die Unerträglichkeit des Arbeitens, wie ich sie z.B am Fließband erlebt habe, kann nur verändert werden von denen, die betroffen sind. Dort muß der Widerstand entwickelt werden.

Ich habe eigentlich nie die Absicht gehabt, ein großer Funktionär zu werden. Ich habe mich immer verstanden als ein Mann, der an der Basis die Arbeit macht. Ich habe immer ein bißchen Angst gehabt, da raus zu kommen, weil ich meine, daß es zu wenige gibt, die diese Arbeit machen.

Deine beiden Kollegen, die mit dir die Plakatgruppe gegründet haben, haben schon vor Jahren der Fabrik den Rücken gekehrt. Willi Hoss ist jetzt Bundestagsabgeordneter der Grünen und Mario D'Andrea lebt wieder in Italien und arbeitet als Campingplatzaufseher und Saisonarbeiter. Hat dich dein Politikverständnis im Betrieb gehalten?

Ich habe nie den Gedanken gehabt, aus dem Betrieb rauszugehen, den Gedanken auch nicht in Erwägung gezogen, als ich 1967 wegen meiner konsequenten Vertrauensmannarbeit an das Fließband strafversetzt wurde. Ich habe nach meiner Versetzung ans Fließband gesagt: jetzt erst recht. Das Fließband war für mich genau das richtige, ich habe es nie bereut, daß ich geblieben bin. Und war der Meinung, den Weg muß man gehen, das ist wie so ein Kelch, den man leert bis zur Neige.

Märtyrer?

Nein, ich leb ja noch, ich bin doch kein Märtyrer. Und ich habe gelebt wie alle anderen auch, und in den letzten zehn Jahren besser. Ich habe durch mein Mandat als freigestellter Betriebsrat ein Privileg, das andere nicht haben. Ich war frei in meinen Entscheidungen, wie ich etwas angehe, nahezu frei. Natürlich gibt es Kritik, und zudem hat man eine Gruppe, die auch Kritik übt. Zum Beispiel hat mein italienischer Kollege immer mal wieder zu mir gesagt, so scharf wie du unten am Band warst, bist du heute nicht mehr. Und auch da muß man bei genauerem Hinsehen der Aussage recht geben. Man nützt sich etwas ab, wenn man soviel Privilegien hat, man verliert etwas an Profil, an Härte. Wenn man nicht drinsteckt, direkt. Ich denke, daß so ein Betriebsrats -Mandat natürlich diese Gefahr in sich birgt. Und daß man da eine gut funktionierende Truppe braucht, die dir sagt: Du warte mal, hier müßtest du deine Position ein bißchen stärker einbringen, so geht das nicht mit dir.

Überall entdeckt man eine Zurückhaltung, dieses „Bloß nicht zu weit gehen“, man hat Ängste, und die gibt es in der Plakatgruppe auch. Zum Beispiel, ob das, was man tut, ausreichend ist, oder ob man nicht noch eins draufpacken muß, und man die Hemmschwelle ein bißchen nach unten verlagert und man mehr riskiert.

Was macht für dich die Qualität der Plakatgruppe aus?

Ich gehe davon aus, daß die, die sich in der Plakatgruppe zusammengeschlossen haben, wissen, daß sie betrieblich keinerlei Aufstiegschancen haben, weil ihr Verhalten sich direkt gegen die Firma richtet. Wir haben unsere festgesetzten Grenzen, über die wir nicht hinausgehen. Wenn wir z.B., wenn es um die Flexibilisierung der Arbeitszeit geht, sagen, kein Arbeitsbeginn vor sechs Uhr morgens, dann bleiben wir dabei.

Wir sind gegen die Boxbergteststrecke und gegen das neue Montagewerk in Raststatt. Wir stellen tatsächlich diese Opposition dar, mit der man nicht über diese Dinge reden kann. Dieser Anspruch in der Gruppe, denke ich, ist eine besondere Qualität. Ich nenne es auch Qualität, wenn man die ökologischen Fragen und die, sagen wir mal, wirtschaftlichen Widersprüche gemeinsam diskutiert, wenn der Grüne Platz hat in der Gruppe. Und ich versteh‘ dieses Arbeiten in der Plakatgruppe als eine Wohltat, weil wir so frei sind. Wir werden nicht von einer Partei gegängelt, aber auch nicht von einer Gewerkschaft, sondern wir prüfen, was macht die Gewerkschaft, und wo verhält sie sich nicht richtig. Daraus ergibt sich eine vernünftige Betriebsarbeit, mit der man dann auch Verständnis bei den Kollegen und Kolleginnen findet.

Würdest du sagen, daß so ein Gewerkschafter-„Typ“, wie du ihn darstellst, ein „auslaufendes Modell“ ist?

Ich habe die Hoffnung, daß es immer mehr gibt, die die Widersprüche in unserer Gesellschaft entdecken, die wie ich nach Möglichkeiten suchen, mehr Solidarität unter den Kollegen und Kolleginnen zu erreichen, um gemeinsam um unsere Bedürfnisse nach mehr Lebensqualität zu kämpfen. Ich bin mir dessen sicher, und ich bin da optimistisch, daß sich das vorwärts entwickelt, daß das nicht ewig abwärts geht, weil ich glaube, daß vielen Menschen bewußt wird, daß diese Befriedigung über den Konsum eben nicht der Weisheit letzter Schluß ist.

Das Gespräch führten Ulli Wendelmann und Wilma Katzinski