Mehr Herbst als neuer Frühling in der CSSR

20 Jahre nach der militärischen Intervention steht eine Rehabilitierung des Prager Frühlings nicht auf der Tagesordnung / CSSR-Führung klammert sich an alte Parolen und mimt Übereinstimmung mit Gorbatschow / Die Gesellschaft ist entpolitisiert und privatisiert  ■ Von Matthias Geis

Wenn sich am Samstag nacht die militärische Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten in Prag zum 20. Mal jährt, wird dieses katastrophale Ereignis in der Geschichte der CSSR noch immer die politische Situation des Landes nachhaltig bestimmen. Die Hoffnung der Optimisten, Gorbatschow werde eine Rehabilitierung des Prager Frühlings durchsetzen, haben sich nicht erfüllt. Noch immer gilt in Prag die propagandistische Sprachregelung von der „Konterrevolutionären Wühlarbeit“ und der „Rettung der sozialistischen Errungenschaften“ durch die „entschlossene Hilfe der Bruderländer“.

Mit dieser Interpretation steht und fällt der Machtanspruch der Prager Führung. Denn die Kollaborateure der Intervention sitzen noch immer im Präsidium der KPTsch. Von dort verhindern sie eine Übernahme des neuen Moskauer Kurses.

Ironisch ließe sich sagen: Die Prager Führung zeigt Charakter; sie kann heute nicht glaubhaft diejenigen Reformansätze wiederaufnehmen, die sie nach '68 unter den Augen der Weltöffentlichkeit mit brutalsten Mitteln abwürgte. Zu offensichtlich sind die programmatischen Parallelen zwischen Gorbatschow und den Prager „Konterrevolutionären“: demokratische Öffentlichkeit herstellen, die Gesellschaft an den politischen Entscheidungsprozessen partizipieren lassen; den bürokratischen Apparat einschränken, Rechtssicherheit gewährleisten; Staat und Wirtschaft entflechten, Marktmechanismen einführen, ökonomische Eigenständigkeit der Betriebe und Formen der Selbstverwaltung durchsetzen; all das ist bereits im „Aktionsprogramm“ der Prager Reformer nachzulesen.

Bislang noch versucht die CSSR-Führung, Konfliktgerüchte herunterzuspielen und Gorbatschow ihre Übereinstimmung mit seinem Kurs zu versichern. Prager Konzessionsbereitschaft ist noch am ehesten im Bereich der Wirtschaftsreform zu erwarten; Anzeichen einer gesellschaftspolitischen Kurskorrektur sind nicht auszumachen.

Denn auch in den mittleren und unteren Rängen der Partei ist heute kein Reformdruck mehr zu verspüren. Die Säuberungen im Zeichen der „Normalisierung“, in deren Folge über 500.000 Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen wurden, haben deutliche Lücken gerissen. Die Reformer von einst sind kaltgestellt, leben im Westen oder stehen der Charta 77 nahe. Progressive Nachfolger von Jakes, Bilak und Co., die den abgerissenen Reformfaden wieder aufnehmen könnten, kann die KPTsch heute nicht bieten.

Auch im Hinblick auf die Reformbereitschaft der tschechoslowakischen Gesellschaft ist die Szene 20 Jahre nach dem Einmarsch grundlegend verwandelt. Weder die Reform –Ära der östlichen Führungsmacht noch Gorbatschows Charisma vermögen die einst reformenthusiastische Bevölkerung aus der Reserve zu locken. Das Ansehen der Kommunisten ist durch Intervention und „Normalisierung“ nachhaltig lädiert, das Vertrauen in einen von der Partei gesteuerten Reformprozeß scheint restlos zerstört. Anzeichen einer erneuten Politisierung sind nicht auszumachen. Die CSSR-Gesellschaft '88 privatisiert. 20 Jahre „Normalisierung“ haben ihre Energien ins Apolitische kanalisiert. Ein im Vergleich zu Polen oder der UdSSR immer noch hoher Lebensstandard fördert den Rückzug der Bevölkerung aus der politischen Sphäre.

Kein guter Nährboden für die Opposition: Die Charta 77 ist heute anders als vor zehn Jahren von der Gesellschaft und ihren Bedürfnissen witgehend abgeschnitten – eine integre, intellektuelle Enklave, die sich zudem schwertut, ihre langjährig an Menschenrechtsfragen orientierte Programmatik zu einem umfassenden gesellschaftspolitischen Reformkonzept zu erweitern.

Angesichts dieser eher tristen tschechoslowakischen Jubiläumsszene wäre – heute – „brüderliche Hilfe“ aus Moskau durchaus wünschenswert. Doch unter Gorbatschow übt man sich in der Respektierung nationaler Souveränität. Zudem hat der Vorsitzende des sowjetischen Ministerrats, Ryschkow, bei seinem Prag-Besuch im Juli deulich gemacht, daß eine Neubewertung des Prager Frühlings nicht auf der Tagesordnung steht. Zwar scheut man sich in Moskau nicht, '68er-Reformer bei den Problemen der wirtschaftlichen Umgestaltung um Rat zu fragen, ihre Rehabilitierung aber wird als innere Angelegenheit der Tschechoslowakei betrachtet.

Eine Ironie der Geschichte ist zweifellos, daß die Respektierung nationaler Eigenständigkeit, die heute den Prager Reformgegnern zuarbeitet, sich auf dasselbe Dokument stützen kann, das 1968 zur Legitimation des Einmarsches diente: Die Breschnew-Doktrin, im August 68 in Bratislava auch von Dubcek – unterzeichnet, begrenzt die Souveränität der Warschauer-Pakt-Staaten im Falle einer Gefährdung ihrer „sozialistischen Errungenschaften“, gesteht jedoch den nationalen KPs für die innenpolitische Entwicklung volle Handlungsfreiheit zu. Das Dokument ist bis heute nicht widerrufen. Doch das Reformklima unter Gorbatschow und dessen Äußerungen in Polen lassen den repressiven Passus der Doktrin heute hinfällig erscheinen. Von der innenpolitischen Souveränitätsgarantie hingegen profitieren die Reformgegner in Prag und Ost-Berlin.

Die Moskauer Weigerung, den Prager Frühling als legitimen Vorgänger und die Intervention als katastrophalen Fehler einzugestehen, dürfte jedoch auch Gründe haben, die mit der Prager Reformentwicklung selbst zu tun haben. Denn bei allen programmatischen Parallelen zur Perestroika stehen die radikalen und spontaneistischen Facetten des tschechoslowakischen Experiments konträr zu Gorbatschows Vorstellung eines kalkulierbaren Reformprozesses unter absoluter Kontrolle der Partei.

So werden auch heute in Moskau radikale Verfechter der Umgestaltung wie Boris Jelzin kaltgestellt oder unkalkulierbare Entwicklungen, etwa im Nationalitätenkonflikt, mit den altbewärten Machtmitteln gestoppt.

Für eine offene Diskussion kommt der 20. Jahrestag noch immer zu früh. Einen Staatsakt zur Erinnerung an die „sozialistische Bruderhilfe“ hingegen wird es auch nicht geben. Denn einiges spricht dafür, daß die Prager Profiteure der Intervention in ihrer Rolle nicht glücklich wurden: Die „Repräsentanten des tschechoslowakischen Volkes“, deren „Hilferuf“ – laut Moskauer Darstellung – die Militärmaschinerie in Bewegung setzte, bleiben auch nach 20 Jahren im Schatten der Anonymität.