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Wer von Ängsten bestimmt ist, kann nichts ändern

■ Alfred Mechtersheimer, Bundestagsabgeordneter der Grünen, tritt für eine Beteiligung von Bundeswehr-Einheiten an den UN-Friedenstruppen ein: gemeinsam mit der DDR-Volksarmee / Grüne müssen „irreale historische Traumata“ aufgeben und die Wiedervereinigung „nicht nur den Rechten überlassen“

taz: Warum sollte sich die Bundeswehr überhaupt an UN -Truppen beteiligen?

Alfred Mechtersheimer: Die BRD hat die humanitäre Pflicht, mit ihren nun mal vorhandenen Kapazitäten nicht den militärischen, sondern den politischen Auftrag von UNO -Truppen zu unterstützen, statt Streitkräfte für einen Vernichtungskrieg in Mitteleuropa bereitzuhalten.

Aber: Dieser Einsatz von Bundeswehr-Einheiten im UNO -Auftrag darf kein Pilotprojekt für einen generellen Einsatz der Bundeswehr weltweit sein. Das ist das Interesse von reaktionären Kräften. Ich möchte einen Abrüstungsschritt. Wenn 5.000 Soldaten in der Sahara und im Golf eingesetzt werden, sind das hier 5.000 Mann Bedrohungskapazität weniger.

Für mich ist von besonderer politischer Bedeutung, daß so etwas blockübergreifend geschieht und sich auch die DDR in entsprechender Größenordnung in diesem Sinne engagiert. Warum sollten zum Beispiel Bundeswehr- und NVA-Verbände in der Sahara nicht gemeinsam die Fernmeldeverbindung der UN -Truppen übernehmen? Warum sollten beide deutsche Staaten für UNO-Friedensaufträge nicht ein gemeinsames Kontingent schaffen? Damit wäre das westdeutsche Engagement auch kein verdecktes amerikanisches Engagement. Damit würde die neue Qualität, die Unabhängigkeit von der Blockkonfrontation, symbolisiert: Sich hineinbewegen in den Kreis neutraler Staaten, die ja überwiegend diese Kontingente stellen. Noch wage ich nicht, das zu fordern, was zwischen Frankreich und der BRD geschieht, nämlich, die Aufstellung einer gemeinsamen Brigade. Aber ein deutsch-deutsches Kontingent für die UNO - das wäre auch ein Thema für die beiden Verteidigungsminister!

Die BRD soll nach dem Wunsch der Konservativen offenbar eine ganz normale Militärmacht werden. Sehen Sie nicht die Gefahr, daß auch Sie mithelfen, die „Empfindlichkeiten“ bei einem Einsatz deutscher Soldaten abzubauen?

Ich gehe aber davon aus, daß in der Öffentlichkeit die Trennung zwischen einem UNO-Einsatz und einer Beteiligung der Bundeswehr an einer NATO-Eingreiftruppe für die Dritte Welt vermittelt werden kann. Ich denke, daß wir so zur Aufwertung der Vereinten Nationen beitragen können. Wir helfen auch mit, das antiquierte Machtsystem der beiden Supermächte zu unterlaufen.

Noch einmal: Unterstützen Sie mit solchen Ideen nicht nur diejenigen, die die deutsche Geschichte entlasten und entsorgen wollen?

Diese Gefahr besteht immer. Wenn man sich von diesen Ängsten bestimmen läßt, darf man nie etwas ändern. Ich bin optimistisch, daß es gelingt, diesem Engagement eine andere Qualätität zu geben. Wenn Bundeswehr-Soldaten dafür sorgen, daß ein iranisches Dorf nicht mit Giftgas ausgelöscht wird, kann ich mir nicht vorstellen, daß das nun genutzt wird, um die Bundeswehr zu einer Wehrmacht zu machen. Das sind Ängste von Leuten, die im Kopfe '68 von '88 nicht unterscheiden können.

Welche Vorstellungen von einer Neuordnung Europas stehen hinter Ihren Vorschlägen?

Diejenigen, die sagen: BRD 'raus aus der NATO, müssen sich Gedanken machen, wo die Bundesrepublik dann stehen soll. Eine wirkliche europäische Friedensordnung muß selbstverständlich auf einer Parallität der westdeutschen und ostdeutschen Außenpolitik aufgebaut sein. Wir können nicht die Integration Europas fordern, aber zwischen beiden deutschen Staaten eine künstliche Mauer bestehen lassen. Die entscheidende Frage ist die Qualität dieser Neuordnung. Die ist eng verbunden mit der Frage nach Abrüstung. Ich habe die Hoffnung, daß mit der Vision eines solchen Manövers klar wird, daß es zwischen beiden deutschen Staaten keine Feindschaft gibt, die eine militärische Hochrüstung rechtfertigt. Ich begreife meinen Vorschlag als politisch -psychologische Vorbereitung für Abrüstung. Aber das überfordert offenbar die Phantasie vieler grüner Freunde.

Ein deutsch-deutsches Kontingent, gemeinsame Manöver, das sind heikle Punkte angesichts der deutschen Geschichte. Sehen Sie nicht die Gefahr, daß das Ausland sehr allergisch reagiert?

In Westdeutschland gibt es die Friedensbewegung, die Grünen, und von vielen Ländern werden wir beneidet um diesen gesellschaftlichen Fortschritt. Da ist für mich wichtiger als die Hypotheken der Vergangenheit. Durch diese neue politische Kultur wurde die Vergangeheit aufgearbeitet. Das muß man fortsetzen, das ist noch nicht genug. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß bei uns neue faschsitische Zeiten bevorstehen. Das Kapitel ist abgeschlossen. Das ist gewiß eine optimistische Einschätzung, die viele nicht teilen. Doch ohne diesen Optimismus im politischen Selbstverständnis sollten die Grünen aufhören, Politik zu machen. Einige Grüne machen ja auch Adenauer-Politik; aus Angst vor Veränderung klammern sie sich mehr an die Westintegration als das jemals eine politische Gruppe in der BRD gemacht hat.

Ihre Vorschläge sind also ein praktischer Schritt zur Überwindung der deutschen Teilung.

Vor allem ein Schritt zur Überwindung der europäischen Teilung, die für mich die größere Herausforderung ist. Man kann nicht sagen: Europa wird ein gemeinsames Haus, aber die beiden deutschen Staaten und Berlin bleiben getrennt. Der Begriff Selbstbestimmung ist nicht nur für die Dritte Welt anwendbar. Für mich ist es ein großes Rätsel, daß es bei den Grünen nicht gelungen ist, diese Debatte offen zu führen. Man muß den Mut haben zu fragen: Jedem Staat wird ein eigenes nationales Verständnis zugestanden - nur ein Land soll in zwei Staaten organisiert sein? Das wäre ein Unikum. Glücklicherweise sehen auch viele Europäer, daß das ein Grund für künftige Konflikte und keine Grundlage für eine wirkliche Friedensordnung ist.

Fürchten Sie nicht, daß solche Vorschläge hierzulande außer Kontrolle geraten?

Es ist nicht so, daß ich da keine Bedenken habe. Es gibt Entscheidungen, die trifft man eben 60 zu 40. Aber es liegt auch an uns: Die Grünen dürfen sich aus der Debatte nicht abmelden, gehemmt und blockiert durch irreale historische Traumata. 76 Prozent der Bevölkerung sagen Ja zu einer Wiedervereinigung. Man darf die nationale Frage nicht nur den Rechten überlassen.

Sie denken an eine Konföderation zwischen BRD und DDR?

Ich bin zurückhaltend bei der Vorstellung, wie sich dieses deutsch-deutsche Verhältnis entwickelt. Diese Frage muß entschieden werden durch den freien Willen der Deutschen in der BRD und in der DDR. Da bin ich nicht so skeptisch. Ich könnte mir sehr wohl vorstellen, daß die reaktionären Kräfte dann sogar von der Forderung nach Wiedervereinigung abrücken. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird dieses zusammengeführte Deutschland keine Flick-Republik werden. Ist das nicht auch eine Hoffnungen für die westdeutsche Linke?

Das Gespräch führte Ursel Sieber

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