Giftfässer aus der BRD verseuchen Schwarzmeerküste

■ Mehr als hundert Fässer mit giftigen Industrierückständen, darunter solche der Hoechst-AG, verwandeln einen dreißig Kilometer langen Abschnitt an der türkischen Schwarzmeerküste in totes Gewässer

Ömer Erzeren war im Zentrum des gefährdeten Gebietes, nahe der Kleinstadt Alacam, die etwa in der Mitte der türkischen Schwarzmeerküste liegt, und beobachtete, wie das lebensgefährliche Strandgut entsorgt wird: ganz und gar ungeschützte Arbeiter verbuddeln die Fässer im Sand. Eine kurze Chronologie erinnert an die Geschichte der bundesrepublikanischen Giftskandale in der Türkei, und ein Gespräch mit einem der ersten Fischer, die die Fässer sahen und erfreut über den guten Fang nach Hause schleppten, öffnet uns die Augen über das Ausmaß der Gefährdung der Bevölkerung.

Verendete Delphine und Fischschwärme werden angeschwemmt. Die Lautsprecher fassen die Katastrophe in Worte: „Bis zu einer Entwarnung durch die Präfektur ist es verboten, ins Meer zu gehen.“

Seit Donnerstag vergangener Woche hört man diesen offiziellen Alarm in Alacam. Sein Grund ist offenkundig: Giftfässer, die seit Ende Juli stranden, haben einen Küstenstreifen von mindestens 30km an der türkischen Schwarzmeerküste verseucht. Die Kleinstadt Alacam ist das Zentrum des gefährdeten Gebietes.

In den gestrandeten Fässern befinden sich Farb- und Lackschlämme, hochgiftige Rückstände aus industriellen Filteranlagen und Pestizide. Einige Fässer sind leck, bei anderen fehlen die Deckel. Viele der Behälter verbreiten einen übelriechenden Gestank. Die Todesexporteure haben sich verrechnet. Sie schlugen Löcher in die Fässer, um sie auf den Meeresgrund sinken zu lassen, aber bis jetzt wurden schon über einhundert Fässer angespült. Die Aufschriften auf den Fässern berichten von deren Herkunft und geben Auskunft über ihren Inhalt: „Hoechst“, „Made in Italy“, das Totenkopfzeichen, „R“, „Filtersysteme“.

Ein Bauer aus dem Dorf Doyran kann von den Wirkungen des Giftmülls aus Western Europe berichten: Seine Kuh leckte an einem der gestrandeten Fässer. Fünfzehn Minuten später war sie tot.

Die türkische Umweltbehörde schweigt sich vorläufig aus. Sie schlug in der Region zwar Alarm, gab aber nicht ein einziges Detail an die Öffentlichkeit. Sie weiß wesentlich mehr. Der taz liegt ein Telex vor, das die Umweltbehörde an die Präfekten der betroffenen Region sandte.

Das Telex Nr.2337 vom 11.August 1988, unterzeichnet vom Chef der türkischen Umweltbehörde Muzaffer Evirgen, beschreibt den Inhalt der Giftfässer folgendermaßen: „Eine Analyse der Proben, die von den vor einiger Zeit gestrandeten Fässern entnommen wurden, wurde in Auftrag gegeben. Bei ersten Untersuchungen konnten toxische Stoffe wie polychlorierte Biphenyle und Pestizide nachgewiesen werden. Die Stoffe sind gefährlich und umweltverschmutzend; sie beeinträchtigen die Atmungswege von Lebewesen, den Boden und das Wasser“.

In dem Telex werden die Präfekten angewiesen, die gestrandeten Fässer zu bergen und „in geschlossenen Räumen, auf Beton, feuersicher, von Lebewesen fernzuhalten“. „Die bereits in die Umwelt verstreuten bzw. ausgelaufenen Stoffe müssen unbedingt gesammelt und in geschlossenen Räumen geborgen werden“, so ordnet das Telex unmißverständlich an.

Polychlorierte Biphenyle (PCB) reichern sich über die Nahrungskette an und können bei Aufnahme größerer Mengen zu Leber-, Milz- und Nierenschäden führen. In Japan gelangten 1968 vergiftetes Tierfutter und vergiftete Lebensmittel in den Handel. Bei etwa 1.000 Menschen kaum es zu deutlich sichtbaren Veränderungen der Haut. In anderen Fällen traten schwere Organschäden, Krebs und Mißgeburten auf.

In der BRD ist die Benutzung von PCB außerhalb geschlossener Systeme (wie Transformatoren) verboten.

Mit ganz und gar verantwortungsloser Nachlässigkeit reagierten die türkischen Behörden auf die Gift-Flaschenpost aus den EG-Ländern BRD und Italien. Obwohl die Fässer seit Ende Juli vom Meer an den Strand gespült werden, erging erst am 3.August eine Verfügung, die Fässer einzusammeln.

Auch die türkische Atombehörde war aktiv geworden. Sie ist bereits durch ihren Umgang mit hochgradig radioaktivem Tee sattsam bekannt.

Zwei Jahre lang wurden dem Tee der durch Tschernobyl verseuchten 86er Ernte Unbedenklichkeitszertifikate ausgestellt, bis vor wenigen Monaten eben diese Behörde eben diese Ernte für bedenklich befand und aus dem Handel zog.

Auch diesmal hatte die Atombehörde wieder gut recherchiert und gründlich nachgedacht. Sie erklärte die Fässer für ungefährlich, da „nicht radioaktiv“.

Die Alarmierung der Bevölkerung durch die Präfekten und das Badeverbot hatten so nur einen Tag lang gedauert. Nach der Unbedenklichkeitserklärung der Atombehörde wurde entwarnt. Dann wurde erst wieder eine Woche später Alarm geschlagen. Also nach dem erwähnten Telex der Umweltbehörde.

Bis heute haben die Bauern und Fischer mehr als einhundert Fässer in den Dünen vergraben. Andere Fässer wurden als Mülltonnen benutzt, nachdem der Inhalt in offenem Feuer verbrannt worden war.

Ende vergangener Woche wurden die Fässer in Alacam wieder ausgegraben und zentral gesammelt: Eine Grundlage aus Brickets, notdürftig mit einer Plastikplane bedeckt, und nur 50 Meter vom Meer entfernt ist nun die Sammelstelle. Zwischen „Entsorgungsstelle“ und Meer stehen eine Reihe Fischerbaracken. Der Gendarmeriekommandant hat die Fässer zusammentragen lassen.

Während offizielle Stellen davor warnen, beim Transport in Hautkontakt mit den Fässern zu kommen, werden die Behälter im Regelfall mit bloßen Händen zur Sammelstelle getragen: 70 Fässer aus Alacam, 19 aus der näheren Umgebung. Auch in Bafra wurden Fässer gesammelt.

Die Menschen, die bei Bergung oder Transport mit den Fässern in Berührung kamen, klagen über Kopfschmerzen, Hautausschläge und Übelkeit. Völlig unbeeindruckt davon gehen wenige Hundert Meter von der Sammelstelle entfernt Menschen baden.

Bis zu 4.000DM kostet die sachgerechte Entsorgung einer Tonne PCB-haltiger Substanzen.

Das unbekannte Giftmüllschiff, das die Ware auf offenem Meer billig und zielsicher, wenngleich mit einem kleinen Fehler „entsorgt“ hat, hat höchstwahrscheinlich die Schwarzmeergewässer inzwischen verlassen. Die Täter und ihre Auftraggeber haben die Massenvergiftung von Menschen in Kauf genommen. Der westdeutsche Chemiegigant Hoechst wird sicherlich jedes Wissen über diese rentabel-billigen „Entsorgungspraktiken“ des unbekannten Schiffes dementieren. Wie im Fall Nigeria. Auch dort wurden Tonnen von Hoechst gefunden.