Anklagebank ohne Angeklagten

■ Täter überführt und geständig, trotzdem fehlt im Gerichtssaal der Schuldige / Vor dem Urteil fehlt von Vergewaltiger fast jede Spur / Der Gerechtigkeit wird Genüge getan, die Opfer haben weiter Grund zur Angst

Für den Staatsanwalt bleibt die Welt auch nach dem 9. Dezember 1987 in Ordnung. An diesem Tag klingelt morgens gegen fünf Uhr der heute 27jährige Detlef S. bei einer gleichaltrigen Bekannten. Kristine T. öffnet arglos, die beiden unterhalten sich ein Viertelstündchen, dann bittet Kristine T. den unangemeldeten Besuch wieder zu gehen. Detlef S. geht nicht. Stattdessen fällt der bis zu diesem Zeitpunkt freundliche junge

Mann völlig unvermittelt über sie her, würgt sie, schlägt sie, droht, sie zu ermorden, vergewaltigt sie mehrfach, bricht ihren Widerstand mit brutalen Faustschlägen. Der Staatsanwalt übersetzt in die Sprache von Juristen: Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung und schwerer Körperverletzung.

Strafschärfend wirken: Eine Jugendstrafe wegen Mordes, die Brutalität des Vorgehens, die

Dauer der Tat, die gesundheit lichen Schäden des Opfers. (Christine T. trägt einen Bruch der Augenhöhle davon, liegt eine Woche im Krankenhaus, eine Psychotherapie der seelischen Folgen ist bis heute nicht abgeschlossen.) Strafmildernd sind zu berücksichtigen: Die glaubhafte Reue des Angeklagten, sein Geständnis, die Bereitschaft, ein Schmerzensgeld zu zahlen, eine mißglückte Kindheit. Macht im Plädoyer summa summarum viereinhalb Jahre Haft, zuzüglich einer noch zu verbüßenden Reststrafe von drei Jahren. Säuberliche juristische Bilanz einer Vergewaltigung. Nach der Urteilsverkündung sind Therapeuten für das Opfer, Justizvollzugsbeamte für den Täter zuständig.

Vor ziemlich genau sieben Jahren hat schon einmal ein Gericht Bilanz über den Angeklagten Detlef S. gezogen. Vor sieben Jahren begann schon einmal die Zuständigkeit der Gefängnisbeamten für Detlef S. Nach einem Sexual

mord war S. zu acht Jahren Jugendstrafe verurteilt worden. Fünf Jahre, die er davon verbüßte, haben weder ihm noch seinem zweiten Opfer, Kristine T., genützt.

Detlef S. gehört nicht zu jenen Typen, die glauben, erst ihren vergewaltigten Opfern ein bißchen bei der Überwindung von „femininen Zickigkeiten“ nachhelfen zu müssen und anschließend ihren Richtern eine viril-selbstgerechte Nachhilfestunde über „die kokette Zierereien im Grunde einverständiger Frauen“ geben.

„War ich das?“ war S.s erste Frage nach der Tat und nachdem er ein feuchtes Handtuch geholt hatte, um Kristine T.s geschwollenes Auge zu kühlen. Unstrittig: Es war S.s Faust, die schlug, S.s Hand, die würgte, S.s Mund, der drohte, S.s Schwanz, der vergewaltigte. Und doch spricht nach drei Verhandlungstagen alles dafür, daß S. nicht der Vergewaltiger ist, dem Kristine T. am 9. De

zember 1987 zum Opfer fiel. S. selbst war an diesem Tag zwei Stunden lang ein anderer. Zum zweiten Mal in einer insgesamt mißglückten Biographie brachen an dieem Tag die hilflos verleugneten, sorgsam verdrängten, desintegrierten Anteile eines Nicht-Ich gewaltsam hervor, überwältigten Detlef S. noch bevor er Kristine S. überwältigte.

Wer also hat die Schuld? Wo sitzt in diesem Prozeß das Subjekt, dem sich strafmildernde und strafschärfende Umstände zurechnen ließen. Es fehlt, hat sich längst wieder in die Panzerungen des schüchternen, ängstlichen Jungen zurückgezogen, der sich seine Enttäuschungen, seinen latenten Frauenhaß nicht eingestehen kann, weil er nichts von ihnen weiß, der viel lieber ein netter, anlehnungsbedürftiger Junge mit den besten Aussichten auf eine liebenswerte deutsche Kleinfamilie wäre und die Enttäuschungen seiner Kindheit, seine ohne Aussicht auf Gegenliebe geliebte

Mutter am liebsten schleunigst wieder vergessen würde. Der sich die Welt mit der Eekenntnis wieder plausibel machen möchte, daß ihm ganz recht geschieht, wenn ihn keiner mag und keiner will. Der wieder zu der Gewißheit rückkehren möchte, daß er „nichts wert“ ist, nichts taugt, nur versagt und am besten im Gefängnis aufgehoben ist.

Dorthin wird Detlef S. auf jeden Fall wieder zurückkehren, wenn heute das Urteil gesprochen sein wird. Eingesperrt wäre dort allerdings nicht der Vergewaltiger Detlef S. Eingesperrt wäre nur ein armseliger, schüchterner Junge, der in sich einen Vergewaltiger eingesperrt hält. Ihn brächte er wieder mit, wenn er nach fünf, sechs oder sieben Jahren wieder entlassen würde und nichts passiert wäre, außer daß der Gerechtigkeit Genüge getan und der Beweis angetreten wäre, daß die Welt der Justiz auch nach einer Vergewaltigung in Ordnung bleibt.

K.S.