Kopf frei und auf die Zähne beißen

Der Zehnkämpfer Jürgen Hingsen nutzt die letzte Chance für sein Seoul-Ticket / Kasernieren und Kassieren Spritzen und Eiswürfel betäuben die kaputte Patellasehne / Schwerer Unfall eines sowjetischen Athleten kümmert wenig  ■  Aus Lage Ernst Thoman

Der Mann mit dem Richtmikrophon wollte für einen Privatsender (Merkmal: mitternächtliches Magazin für Männer und Muskeln) auf Empfang gehen. Einen Zehnkampf hat er leibhaftig gewiß nie bestritten, fünzehn mal einhundert Meter ebenfalls nicht. In 4:26,63 Minuten hatte Jürgen Hingsen gerade den abschließenden Wettkampf stramm heruntergestrampelt und damit die Tür nach Seoul aufgestoßen; erst im Auslauf drohte er zu stolpern. Auf Schultern von Betreuern gestützt, japste der Zwei-Meter-Zwei Zentner-Adonis minutenlang nach Luft. Bereits nach dreißig Sekunden wollte der fixe Interviewer, nachdem er sich routiniert durch die Masse von Hingsen-Fans gekeilt hatte, seinen Mikro-Fich landen: „Jürgen, bitte deinen Kommentar.“

Mehr als eine olympiareife Atemfrequenz ging da nicht auf den Sender. Hochleistung - das war ein luftloser Hingsen auf wackelnden Knien, auf die Liege gepackt, mit Eiswürfeln abgerieben. Der Kreilauf pulste den Kraftakt nach zehn Minuten in die normale Bahn. Der erste Satz des fast totgesagten Zehnkampf-Veteranen war die ökologisch Bitte um saubere Luft: „Mensch, macht die Zigaretten aus.“

Danach begriff Hingsen, daß die olympische Flamme für ihn flackern wird. Raus aus der Liege, die nachwabernde Menge abschüttelnd, lief er die Tribüne zum Lautsprecher hoch. Der langjährige Vize-König der Zehnkämpfer: „Ihr wart super, ihr wart fünfzig Prozent meiner Leistung.“ Mit 8.360 wurde die von ihm geforderte Norm für die Olympia-Qualifikation zwar um 40 Zähler verfehlt, doch DLV-Leistungssportdirektor Horst Blattgerste meinte bereits am Samstag abend: „Wir sind keine Erbsenzähler.“

Die andere Hälfte für die Seoul-Fahrkarte müssen sich die Attribute „mental, dental, subkutan und intra-muskulär“ teilen. Eine einwöchige Spritzenkur in der Freiburger Abschmier-Praxis von Prof.Armin Klümper beruhigte die verschlissene Patella-Sehne, Verbindung zwischen Knie und Oberschenkel-Quadrizeps. Die weiteren Schlüssel des von der Fachwelt als verpaßt prognostizierten Zuges via Seoul: Kopf frei und auf die Zähne beißen. Animateur Daley Thompson spielte in Lage dabei keine Rolle. An beiden Wettkampftagen schlich er je dreimal lasch in die Arena und blieb ansonsten unbeteiligt.

Auch er flog nach ärztlicher Versorgung von Bayern Münchens Dr.Müller-Wohlfarth im lippischen Lage ein und teilt mit Hingsen die Nöte der in die Jahre gekommenen Zehnkämpfer: Hoffentlich in Seoul einen gesunden Zehnkampf absolvieren.

Anders Jürgen Hingsen. Vor genau einem Jahr, nach der Rom -WM im August, stand er im Spätherbst seiner Karriere. Mit Übergewicht und existentiellen Nöten - Hausschulden drücken, Sponsorenverträge gehen zuende - lief er in die offenen Arme zweier Kumpel. Gewichtheber-Weltmeister Rolf Milser (Duisburg) und DLV-Sprint-Trainer Heinz Hüsselman (Duisburg) verpaßten dem gebürtigen Duisburger Hingsen einen knallharten Fahrplan. Mit Chauvi-Sprüchen wie „Frau und Familie vertragen sich nicht mit sportlicher Höchstleistung; Jeanie muß ab in die USA; Jürgen muß lernen, wieder aus dem Kohlenkasten zu fressen“, wurde Hingsen kaserniert, Pressegespräche ebenso verboten wie das von ihm geliebte Vollbad in der Menge. Gipfel der geplanten Besteigung des Achttausenders in Südkorea: „Kassieren kann er hinterher.“

Der Zahltag kann kommen. Bundestrainer Wolfgang Bergmann signalisierte bei übersprungenen 4,80m mit dem Stab bereits: „Aufhören, das reicht.“ Ausgerechnet die stets traumatische Disziplin des Jürgen Hingsen bescherte den unerwarteten Höhenflug. Zur selben Zeit stürzte der sowjetische Mehrkämpfer Sergej Kalmykow bei seinen ersten Versuch über 4 Meter am anderen Ender der Anlage lebensgefährlich auf die Holzunterlage der Stabhochsprungmatte. Der russische Junior erlitt einen Schädelbruch und wurde allein durch die sofortige Notversorgung von DLV-Arzt Hans-Joachim Häberle gerettet. Im Absprungkasten liegend vollzog sich ein einstündiger Wettlauf mit dem Tod. Angesichts der Attraktion Hingsen blieb das tragische Geschehen Randgeschichte. DLV -Koordinator Werner von Moltke: „Das hier muß weiter gehen.“ Und dem Stadionsprecher war nichts zu peinlich: „Wir bedauern, daß der Regen die Veranstaltung unterbricht.“ Drei Stunden, nachdem Kalmykow mit dem Rettungshubschrauber in die Universitätsklinik Hannover geflogen wurde, jubelten 10.000 in Lage mit ihrem Jürgen.

Wettkampf für Jürgen Hingsen: 8 360 Pkt. (100 m: 11,26 Sek./ Weit: 7,44 m/ Kugel: 15,62m/ Hoch 2,01 m/ 400 m: 49,46 Sek.

-110 m Hürden: 14,28 Sek./ Diskus: 46,80 m/ Stabhoch: 4,80 m/ Speer 63,86 m/ 1 500 m: 4:26,63 Min.)