SECHSUNDZWANZIG ROTTÖNE

■ „Leyla und Medjnun“, ein musikalisches Märchen in der Akademie der Künste

Die Schlußgesten des Orchesters, nachdem die beiden Liebenden verstummt sind, setzen ganz sanft ein, schwellen kurz an, brechen ab, setzen wieder ein, brechen ab, um schließlich zu ermatten. Es ist ein Ersterben, oder nicht so sehr ein Ersterben als ein Bild davon: Als repetierte eine Tänzerin, aber eine, die sich im Vollbesitz ihrer Kräfte und ihrer Anmut wüßte, die letzten zarten Zuckungen eines sterbenden Mädchens. Das Abbrechen hat nichts Abruptes, nichts asthmatisch nach Luft Ringendes, es ist eher ein lautloses Zurückschnellen. Todesangst oder Protest hört man nicht, das Orchester ist einverstanden.

Leyla und Medjnun sterben an ihrer Liebe. Sie stirbt, weil sie ihn nur aus der Ferne lieben darf, er, weil er sie nur aus der Ferne lieben kann (er braucht das, um Gedichte über sie schreiben zu können). Die rechte Bühnenhälfte ist im wesentlichen ihm zugeordnet, die linke ihr. Sie singen kaum je miteinander, dafür umso öfter voneinander, zusammen kommen sie im Grunde nie. Sie konferieren mit Händlern, Soldaten, Tieren, Jägern, Vater und Mutter. Leyla wird mit einem anderen verheiratet. Medjnun treibt darauf die Soldaten - durch die schiere propagandistische Macht seiner Liebesgedichte - zum Krieg. Dann wird, wie gesagt, gestorben.

Über die Bühne läuft ein Erzähler ganz in schwarz (Jürgen Arndt), als einziger in Alltagskleidung, als eine Art personifizierte Weltliteratur. Er führt Leylas und Medjnuns Geschichte vor und prüft zugleich, ob sie für seinen Katalog unmöglicher Liebesgeschichten - wie Romeo und Julia, Daphnis und Chloe etc. - taugen. Er ist der einzige, der spricht, und nicht singt, alles in allem zeitigt er einen sehr brechtischen V-Effekt (gedichtet wurde das Märchen von Aras Ören und Peter Schneider nach persischen und türkischen Originalquellen).

Auf der leicht ansteigende Bühne ist gelboranger Tüll drapiert. Der ganzen Länge nach ist die Bühne durch einen Steg geteilt, der sich in den Bühnenhimmel fortsetzt und der so tiefblau ist, als wäre die Erde inzwei gegangen. Alle Farben (Bühnenbild: Rosalie) sind rein und frisch, vor allem Regenbogenfarben: Ultramarin, violett, grün, knallrot, und weiß.

Vom Bühnenbild her ist diese unmögliche Liebe also ein narzißtisches Prangen. Von der Inszenierung (Klaus Kirschner) wird sie in langsamen, kryptischen, schönen Gesten zelebriert, von der Musik elegisch gesungen. Dramatisch ausgehandelt wird die Unmöglichkeit dieser Liebe nicht, sondern alle sind sich von Anfang an darüber einig.

Die Musik ist ein einziges Farbenspiel. Das Orchester -Instrumentarium - Celesta, Harfe, Streicher, Horn, Klarinette, Englischhorn, Gongs, Tamtam, große Trommel usw.

-ist auf Verschmelzung, nicht auf Spaltklang angelegt. Und wenn Detlev Glanert diese Valeurs mischt, dann nicht um die daraus entstehenden Farben zu dämpfen, sondern um sie leuchten zu lassen - so wie Barnett Newman, um ein prismatisches Rot zu malen, 26 verschiedene Rottöne übereinanderlegte. Glanerts Farbstaffelungen sind so raffiniert, daß man den Höreindruck kaum mehr zerlegen kann. Gute Gehörbildungsaufgaben: Welche Instrumente spielen diesen Akkord und wieviele Töne hat er, werden die Instrumente im Unisono oder mehrere Linien parallel geführt, und was schwebt da sonst noch so an Tönen? Auch die Gesangspartien - melismenreich oder gleich Vokalisen - sind als Farbreize der Komposition oft eingefügt, Betörung als Musik, unmerkliche Übergänge, Biegsamkeit, Perlmuttschimmer, gut durchblutetes Unterhautgewebe und Staunen über die eigene Schönheit.

Es gibt auch Schroffheit und dissonante Ballungen, aber seltsam: Die wirken wie angelernt, wie eine Reverenz an irgendein Wissen über die Liebe, eine halbherzige Negation des Narzißmus. Sie riechen, wie auch die Gestalt des Erzählers, nach Pädagogik. Die Härten klirren nicht, auch dort nicht, wo sie es wollen, wo es um Krieg und Tod geht. Daran krankt, glaube ich, das ganze Spektakel. Es handelt von der Unmöglichkeit von Liebe, aber es weiß sie zusehr im voraus und lebt sie zuwenig. Es ist zu schön oder eben nicht schön genug: Dann müßte das Tuch aus Seide sein, und nicht aus Viskose, und Medjnuns Dichterträne wirklich diamanten.

Leyla und Medjnun ist zuerst auf Henzes Münchner Biennale aufgeführt worden. Maria Husmann als Leyla und Sibrand Basa als Medjnun waren hervorragend, alle anderen Sänger auch, das Ensemble Neue Musik München unter Roger Epple auch. Niemand ist besonders hervorzuheben.

Thierry Chervel