Saramagos "Memorial"-betr.: "Arbeiterfreundliche Akribie", taz vom 12.8.88

betr.: „Arbeiterfreundliche Akribie“, taz vom 12.8.88

(...) Es ist Updikes gutes Recht, das Buch nicht zu mögen. Was mich nicht wundert. Denn er hat das Buch vielleicht verstanden, wohl aber nicht begriffen. Was wieder kein Wunder ist. Denn dieses Buch ist kaum für nicht iberische Menschen zu begreifen, die die vielschichtige Welt dieses Romans höchstens vom Hörensagen kennen: Geschichte und Gegenwart, Märchen und Bericht, Lyrik und Satire, soziale Kritik und ironisierende Selbstkritik, Schelmenroman und Liebeserklärung zu den Kleinen, Anklage gegen Größenwahn und Plädoyer für Fantasie, scharfsinnige Religionskritik und Respekt vor dem glaubenden Volk, zärtliche und deftige Bilder, Zartfühlendes und Freches, von schwarzem Humor übersäte Tragödie. In einer iberischen Welt, die den „angelsächsischen“ Menschen verschlossen bleibt, verschlossen bleiben muß, schon alleine deswegen, weil die Sprache in diesem Roman fast die Hauptperson ist, die Sprache selbst - die portugiesische, versteht sich - mit ihrem ins Angelsächsische unübertragbarem Rhythmus, mit ihrer unnachahmlichen Melodie, mit ihren ins Angelsächsische unübertragbaren Bildern, Anspielungen, Wortspielen...

(...) Meine Empfehlung für deutsche Leser: Den Roman möglichst im Portugiesischen lesen. Wenn das nicht geht, dann in der spanischen Übersetzung. Im Deutschen geht es auch. Als Nottugend. Wenn aber der Genuß sich in Grenzen hält, ist der Roman selbst nicht daran schuld, und der deutsche Leser auch nicht.

G.Aparicio, Stuttgart 1