Eine Sekunde Panik im Alltag

■ Polanskis „Frantic“

Thierry Chervel

Die Pässe bitte“, sagt der Empfangschef. Das Grand Hotel Paris, in der Nähe der Oper gelegen, ist ein seriöses Haus, erste internationale Standardklasse, frisch renoviert. Die Teppiche sind leise und taubenblau. Der Empfangschef hat einen gewissen gedämpften Schalk in den Augen, er blickt zur Seite wie ein Arzt, wenn der Patient sich entblößt.

Sie und er - er ein Arzt aus Kalifornien (Harrison Ford), sie die patente Frau an seiner Seite (Betty Buckley) wechseln einen verstohlenen Blick, etwa wie zwei Verbrecher, die ein stilles Zeichen zur Flucht verabredet haben. Wer hat die Pässe? Ihre Kleidung ist von der Reise zerknittert, die Bewegungen ihrer Körper sind ein bißchen fahrig, als hätten sie, vielleicht wegen der Zeitverschiebung, ihre Balance noch nicht ganz wiedergefunden.

Plötzlich - aber sacht - fährt die Kamera ein Stück näher heran und rahmt die drei ein. Ihr Interesse ist erwacht. Anders als der Empfangschef kennt sie keine Diskretion, sie stiert. Mrs. Walker greift in ihre Handtasche aus braunem Leder. „Danke“, sagt der Empfangschef, „Zimmer 402“.

Eine Sekunde Panik im Alltag. Die Kamera sieht zu wie ein Zeremonienmeister, der sich unauffällig im Hintergrund halten will. Aber dann tritt er einen Schritt vor und durchbricht die Zurückhaltung, als wäre er nun doch lüstern zu sehen, ob das Arrangement, das er getroffen hat, auch wirklich funktioniert.

Das ist der grausame Narzißmus von Polanskis Kamera. Sie will sich spiegeln in matt glänzendem Angstschweiß. Dabei hat sie selbst etwas Schwitzendes - und darum auch für die Zuschauer so Unangenehmes - wie der Voyeur im Mieter, der sich nicht von ungefähr hinter genau dieses Paar ins Kino setzt.

Die Situation hat sich in nichts aufgelöst, alles ist in Ordnung, die Pässe sind da, die Walkers unbescholtene Leute. Also wirklich nichts weiter als eine Sekunde Panik im Alltag. Anders als „im Leben“ weiß man „im Kino“ allerdings, daß es weitergeht. Gerade durch ihre Alltäglichkeit haben einen diese Paniksekunden bei Polanski immer fürs Leben irritiert.

Es gibt noch mehr solche Momente in der Exposition von Frantic. Als der Empfangschef den Walkers ihr „Zimmer 402“ vorführt und alle Einrichtungsgegenstände im einzelnen erklärt: Telefon, Radio, Fernseher, Kühlschrank, Dusche, leise und routiniert geht die Kamera immer mit. Und als er das Zimmer verläßt, geht sie wieder mit. Er schließt die Tür, verläßt das Bild, und sie fährt auf dem leeren langen Flur langsam noch zwei, drei Meter weiter. Sie tastet die Räumlichkeiten ab, gewissermaßen daraufhin, was hier alles so passieren könnte und was man alles inszenieren könnte, wieder dieser Zeremonienmeisterblick, und setzt wieder diese schwitzende Angstlust frei. Die Kamera weiß schließlich schon, was passieren wird, enthält es uns, die irgendwie schon was ahnen, aber noch vor. Nur die Walkers, Bilder der Unschuld, wissen von nichts.

Die Exposition ist typisch für Polanski: Ankunft an einem fremden Ort (wie in Messer im Wasser oder im Tanz der Vampire), die Fahrt vom Flughafen in die Stadt, die Panne mit dem Taxi, das Einchecken im Hotel. Dann die Präsentation der Räume (wie in Ekel, Rosemary's Baby und im Mieter). Nach diesem Anfang, der mehr als eine halbe Stunde braucht, könnte man denken, daß es so weitergeht: Etwas macht Angst. Die Räume fangen an zu sprechen. Angst schärft die Wahrnehmung, bis sie überschnappt. Die Räume verlieren ihre Konsistenz. Aus alltäglichen Irritationen wird flatternde Todesangst.

Aber die Bewegung von außen nach innen, die Bewegung fast aller früheren Polanski-Filme, die aus Normalität die Privathölle präparierte und sie wie aus Zwang zugleich betrachtete und zur Schau stellte, bricht hier in sich zusammen.

Durch einen vertauschten Koffer platzt die Außenwelt ins Arrangement. Walkers Frau ist spurlos verschwunden. Walker sucht. Er ist desorientiert, er spricht kein Französisch. Die ungläubigen Hoteldetektive, Pariser Polizisten, amerikanischen Botschaftsangehörigen sind ihm keine Hilfe. Der Koffer gehört einem Mädchen aus der Drogenszene (Emanuelle Seigner, Polanskis Lebensgefährtin, wie es heißt). Was sie darin geschmuggelt hat, weiß sie nicht, der Inhalt sieht harmlos aus, jedenfalls kein Rauschgift. Sie tun sich zusammen. Sie will ihren Schmuggellohn, er seine Frau. Im Koffer ist ein Zündaggregat für Atombomben. Ferner: Arabische Terroristen, CIA, Diskotheken, Parkhäuser, Autojagden, eine irrwitzige Performance auf dem Dach eines Pariser Mietshauses, Schießereien und ein Showdown.

An dem Punkt also, wo Catherine Deneuve in Ekel die Spiegeltür ihres Kleiderschranks öffnet und im seitlich wegkippenden Spiegelbild sieht: hinter ihr steht einer, und sich umdreht, und da ist gar keiner; an der Stelle, wo der Mieter ans Fenster seines Zimmers tritt, und im Klofenster gegenüber steht auch er, wo die Verunsicherung unentwirrbar wird, dementiert Frantic die zunächst aufgebaute innere Spannung und verliert sich in Aktion nach dem Muster aller Thriller. Das ist genau andersrum gestrickt: erst die Verwirrung, dann eine Spur, Turbulenzen, und schließlich klärt sich alles auf.

Die äußeren Geschehnisse sind auch nicht als Spiegel von Walkers Innerem, etwa als symbolisch ausgehandelte Ehekrise, zu verstehen. Zu unspezifisch bleibt dafür sein Verhältnis zu dem Mädchen. Die beiden bleiben ein Zweckbündnis zur Lösung des Falls. Zwischen ihnen ist nichts Gewaltsames, Konvulsivisches, sich aneinander Festklammerndes, wie es in der extremen Gespanntheit der Situation ja naheläge, keine Erotik.

Überhaupt dieses Mädchen. Sie ist eine Art Katalysator, sie ist es letztlich, die die innere Spannung abführt, weil sie dem in der Fremde je schon tapsigen Durchschnittsamerikaner und außer Fassung geratenen Glattgesicht hilft, sich zurechtzufinden in der großen wilden Stadt. Dann tritt sie ab. Dabei hat sie nicht einmal eine Tragik, Emmanuelle Seigner spielt zu sehr, man nimmt ihr das Laute, Szenige, Vulgäre nicht ganz ab, Beatrice Dalle (Betty Blue) wäre eine bessere Besetzung gewesen.

Natürlich muß sie im Showdown dran glauben. Ennio Morricones großsymphonische Musik wiegt sich in Sequenzen. Mr. und Mrs. Walker liegen sich in den Armen. Die Ordnung ist wiederhergestellt, alles Störende aus dem Weg geräumt. Polanski ist von seinen Perversionen geheilt. Er trifft seine Arrangements jetzt mit der Konvention.

„Frantic“, von Roman Polanski, Drehbuch: Gerard Brach und Roman Polanski, Kamera: Witold Sobocsinski, Musik: Ennio Morricone, mit Harrison Ford, Betty Buckley, Emanuelle Seigner, Frankreich 1987, 124 Min.