Baustellenästhetik in Frankfurt

Dauerbaustellen bestimmen das Bild der Rhein-Main-Metropole / Ästhetisches Endziel: die Bepflasterung der gesamten City / Korruptionsskandale verschleppen den Fortgang der Arbeiten / Ämter reagieren nervös auf Nachfragen  ■  Aus Frankfurt Reinhard Mohr

„Ich verlange von einer Stadt, in der ich leben soll, Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung und Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.“ Was in Karl -Kraus-Zeiten für eine Metropole reichte, genügt in den achtziger Jahren nicht mehr.

Der ökonomischen Dynamik und sozialen Verdichtung - jene „kolossale Zentralisation“, wie sie Friedrich Engels im vergangenen Jahrhundert beim Anblick Londons bestaunte - muß heute dramaturgisch und ästhetisch auf die Sprünge geholfen werden. Denn je unsichtbarer die Geld- und Warenströme fließen, desto weniger pulsiert das öffentliche Leben in der Metropole. Das hatte auch Walter Wallmann, Frankurts Ex -Oberbürgermeister und Noch-Ministerpräsident Hessens begriffen, als er 1977 sein städtebauliches Großprojekt in Angriff nahm: die Stadt als Erlebnisraum des Gemüts wieder ins Recht zu setzen - Gemütlichkeit als öffentliche Angelegenheit. Und so geschah es auch. Als er wegen der Atomkatastrophe in Tschernobyl Frankfurt gen Bonn verließ, um als Bundesumweltminister die Autorität der Grenzwerte radioaktiver Verseuchung wiederherzustellen, war die Metropole des Rhein-Main-Gebiets schon ungeheuer „menschlich“ und „gemütlich“ geworden.

Auch die Sozialdemokraten konnten demnach nicht umhin, das Individuum als urbanen Erlebnisbürger und polyvalenten Wechselwähler zu hofieren. Während das Waldsterben ringsherum anhielt, prangten die neu angepflanzten Bäume der Stadt im fetten Grün - als Wahrzeichen der Versöhnung von Natur und Kultur, Materie und Geist.

Doch als im Herbst 1968 die U-Bahn-Linien U6 und U7 eröffnet wurden und Wallmann durch sozialdemokratische Dummheit zum Ministerpräsidenten Hessens gewählt wurde, begann der Abstieg: Überall in der postmodern aufpolierten City schossen Baustellen empor, gruben sich Bohrer und Bagger ins Erdreich, türmten sich Berge von Schutt und Steinen. Das Ziel „Schienenfreie Innenstadt“ wurde mit einer Raserei verfolgt, als seien die Überbleibsel der alten Straßenbahn ein memento mori vorsintflutlicher Zeiten. Zur gleichen Zeit steckte ein DDR-Emigrant auf der Suche nach etwas Eßbarem die Oper an, deren Vorplatz gerade zum Kulturempfangs-Environment ausgebaut werden sollte. Zu allem Überfluß begannen auch noch zwei große Kaufhäuser mit Neubauten auf der „Zeil“, der größten Einkaufsstraße.

Viele jener Baustellen, die Fußgänger, Radfahrer und Autobesitzer jeden zweiten Tag zu neuen Streckenführungen zwangen, bewiesen eine erstaunliche Zähigkeit. Monate gingen ins Land, und immer noch mußten die echten und die falschen Yuppies auf ihrem Wege durch aufgewühlten Sand und Asphaltbrocken stolpern. Frankfurt näherte sich in dieser Zeit wieder der früheren Bauzaunästhetik - mit einem, allerdings entscheidenden Unterschied: die Gefahr, daß daraus Barrikaden werden könnten, besteht nicht mehr. Dennoch fragten sich Geschäftsleute in den teuren Boutiquenstraßen der Innenstadt, ob der schleppende Fortgang der Bauarbeiten, deren ästhetisches Endziel - die flächendeckende Bepflasterung der gesamten City - jetzt langsam erkennbar wird, nicht an Sabotage grenzt.

In den zuständigen Ämtern der Stadt reagiert man vorwiegend nervös, wenn die Frage nach dem Grund der Dauerbaustellen gestellt wird. Bis Ende des Jahres, rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft, sollen die großen Löcher in der City gestopft sein, versichert der Leiter des Straßenbauamtes. Bis dahin werden knapp 50 Millionen Mark verbaut sein.

Was der oberste Straßenbauer Frankfurts nicht erzählte: durch den Korruptionsskandal in der Stadtverwaltung hat er alle vier Baubezirksleiter verloren. Sie wurden wegen Bestechlichkeit verhaftet und sehen nun ihren Prozessen entgegen. Großaufträge wurden von ihnen so geschickt verteilt, daß unter Umgehung ordentlicher Ausschreibungen immer denselben Firmen der Zuschlag erteilt wurde, die sich dafür mit Pelzmänteln, Kellerbars und viel Geld bedankten. Was den Vorgesetzten recht war, war auch ihren Untergebenen teuer, und so fehlen heute Dutzende von Bautechnikern und anderen Mitarbeitern der am Straßenbau beteiligten Ämter und Firmen.

Neben den Schmiergeldern von gestern sorgt heute die striktere Einhaltung der Vorschriften für Sand im Baugetriebe Frankfurts. Doch darin mag man vielleicht auch einen tieferen Sinn sehen: Diese Baustellen dienen keinem eindeutigen Zweck mehr. Sie sind die Vorboten jener „zentralen Leere“, die Roland Barthes bei einem Besuch in Tokio faszinierte.