Tatort Mattscheibe

Erinnern, wiederholen, aufarbeiten, im Ersten, im Zweiten, im Dritten Programm. Schon eine ganze Woche lang wird die ganze verkabelte Gesellschaft genervt. Eine TV-Sondersendung jagt die nächste, Therapie ist angesagt, und was für eine! Ein linker Anwalt in der Kneipe: „Der finale Todesschuß ist rechtlich auch jetzt schon abgesichert.“ Die Täter hätten, so tönt es von allen Stammtischen und glotzt es auf allen Kanälen, „satt gemacht“ werden können. Die laufenden Bilder von Köln und Bremen werden angehalten, die Köpfe der Geiselnehmer mit Zielkreisen umrandet, das Publikum schießt mit, ein Hauch von „Goldenem Schuß“ kommt auf, und der Moderator will vom Innenminister Schnoor wissen, warum nicht geschossen wurde. Der hat den halben Führungsstab der Polizei mit ins ZDF-Studio gebracht, inszeniert eine vorweggenommene Innenausschußsitzung. Jeder darf was sagen, und der Minister brüllt: „Jetzt lassen Sie mal die Polizei ausreden! Das war so abgemacht, sonst wären wir gar nicht gekommen.“ Wieso läßt sich ein Fernsehmoderator das gefallen und brüllt nicht zurück, daß es doch die verdammte Pflicht eines Ministers ist zu antworten?

Warum haben die Scharfschützen nicht geschossen? ARD, ZDF, WDR, NDR, immer dieselbe Frage. Da wirkt der Schußwaffenexperte, der im Studio vorführen durfte, wie man Täter entwaffnet, schon fast zivil: schnell die Trommel festhalten und Pistole nach oben wegdrehen in Richtung Täter, doziert er, der bricht sich dabei garantiert die Finger oder erschießt sich selber. So einfach ist das. Die Frage, warum keiner aus der versammelten Journaille die Gangster angebrüllt hat und statt dessen alle fasziniert small-talk mit ihnen trieben, kommt gar nicht erst auf. Ob Fingerhakeln oder Todesschuß: immer wieder diese Bilder, sanft unterlegt von der Begleitmusik, die sich Diskussion nennt.

Die Äußerungen von Strauß bis Geißler kommen wie erwartet, überraschen konnte nur der Linksliberale Gerhard Baum mit seinem „Wo blieb die Nachrichtensperre?“ Mit Beifall von allen Seiten belohnt wird die einfältige Forderung, Journalisten und Polizei müßten sich „zusammensetzen“. Vergessen ist, daß gestern noch die Presse die Polizisten wegen beschlagnahmter Photos anklagte, heute soll ein „neuer Verhaltenskodex“ für Zusammenarbeit sorgen. Stichwort für eine besondere Spezies von Polit- und TV-Akteuren: Schon bei der Barschel-Affäre seien die Medien zu weit gegangen... An die Opfer vor allem müsse man denken. Und so gerät alles in denselben (Opfer-) Strudel: Barschel, der 15jährige Italiener und das 18jährige Mädchen, der tote Polizist. Der TV-Abend ist gelungen, wenn die Soße des Mitleids nur gerecht verteilt ist.

So lautet die einhellige, sich einhämmernde öffentliche Meinung: Ob Rücktritte oder schärfere Gesetze, auf jeden Fall müsse etwas passieren. Eine ganze TV-Nation spielt Sondereinsatzkommando. Es gibt scheinbar keine politischen Gegensätze mehr, weil kein Andreas Baader, keine Gudrun Ensslin mehr im Mittelpunkt stehen, sondern nur diese beidenso harmlos wie gefährlichen tätowierten Gladbecker Gangster. Der Verdacht drängt sich auf, daß hier die „Gesellschaft im Normalzustand“ ihr Coming out als Polizeistaat, ihren eigenen Deutschen Herbst, erlebt. Vor zehn Jahren, nach dem Herbst der Schleyer-Entführung, setzte sich bei der Linken mühsam die Erkenntnis durch, daß eine funktionierende Öffentlichkeit der einzige wirksame Schutz der Gesellschaft vor dem Polizeistaat ist - auch für Geiseln. Heute, nach Gladbeck, scheint sich diese Erkenntnis ohne nennenswerten Widerstand ins Gegenteil zu verkehren.

Max Thomas Mehr