Normalzustand

■ In Chile wurde der Ausnahmezustand aufgehoben

Je näher der Oktober rückt und mit ihm das Plebiszit über 15 Jahre Diktatur, desto freundlicher grinst die Fratze Pinochets. Vor Wochen schon hat Chiles Staatspräsident, zugleich Oberbefehlshaber des Heeres, der traditionell stärksten Teilstreitkraft des Landes, die Uniform mit dem Anzug getauscht. Der General präsentiert sich als Landesvater. Und nun hat er auch noch den Ausnahmezustand aufgehoben. Zum ersten Mal seit dem Putsch vom September 1973 herrscht in Chile Normalzustand.

Eine großmütige Geste, viel mehr nicht. Denn weder der Ausnahmezustand noch der bisweilen verhängte Belagerungszustand haben je Folter, Verschwindenlassen und Mord rechtlich ermöglicht. Und es spricht nichts dafür, daß die Änderung des Rechtszustandes allein schon ein Ende dieser auch bisher illegalen Praxis staatlicher Organe und von diesen kontrollierter Todesschwadronen bedeutet.

Im übrigen ändert die Einführung des rechtlichen Normalzustandes nichts daran, daß in Chile – allein durch die Bajonette legitimiert – die Militärs an der Macht sind, daß es keine unabhängige Justiz gibt und keine gewählte Regierung. Was anderswo als Ausnahme gilt, ist in Chile normal. Den chilenischen Normalzustand hat Pinochet 1980 in einer neuen Verfassung geradezu zementiert. Diese erklärt nicht nur Organisationen, die den „Klassenkampf befürworten“, für illegal und schließt damit in einer Art ideologischer Apartheid die Linke von jeglicher Politik aus, sondern ist auch eine rechtliche Absicherung der Militärdiktatur schlechthin. Den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte – bis 1997 wird aufgrund der Verfassung auch Pinochet zu ihnen gehören – wird ein Mitsprache- und Vetorecht in der Gesetzgebung eingeräumt. Kurzum: Der verfassungsmäßige Normalzustand ist ein faktischer Ausnahmezustand.

Soweit die Begriffsklärung. Die Aufhebung des Ausnahmezustands, die Änderung des Rechtszustandes hat also

–trotz der neuen Perspektiven, die sich mit dem Plebiszit und einer möglichen Niederlage der Diktatur eröffnen – mit der Änderung des realen Zustandes nur am Rande zu tun. Personen dürfen zwar nun rechtlich nicht mehr 20 Tage ohne Haftprüfungstermin festgehalten und nicht mehr auf außergerichtlichem Weg bis zu drei Monaten verbannt werden. Doch bedeutsamer als dies ist der Schein von Rechtmäßigkeit, mit dem sich die Diktatur umgibt. Pinochets Regime braucht wie jede Diktatur, die nicht nur auf die Macht der Bajonette setzen mag, hierin dem Nazi-Regime durchaus artverwandt eine rechtliche Absicherung seiner Herrschaft. Mit der Verfassung hat es sich diese geschaffen. Mit verfassungsmäßigen Schritten wie Aufhebung oder Verhängung von Ausnahme- oder Belagerungszuständen soll die rechtliche Absicherung im nachhinein rechtmäßig erscheinen. Was dem Schein nach legal ist, soll legitim werden – eine Diktatur, die sich im Bedarfsfall – selbstverständlich ungestraft noch immer über ihre eigenen Gesetze hinweggesetzt hat. Oder soll man von Pinochet ernsthaft verlangen, daß er seinem Obersten Gericht Order erteilt, gegen ihn wegen Mordes an einigen Tausend Chilenen zu ermitteln – ganz im Rahmen des Normalzustandes?

Thomas Schmid