Kultureller Anschlag auf die Sinne

■ In Edinburgh hat sich Rolf Paasch durch Europas größtes Theaterfestival hindurchgewühlt

Edinburgh jedes Jahr im August: Kultur total, Kultur global. So total, daß das „Fringe„-Festival, vor 30 Jahren für Experimente „am Rande“ des Festivals gegründet, längst so etabliert ist, daß ein Fringe of the Fringe namens „Edge“ entstanden ist. Sonst herrscht die kosmopolitische Festival -Industrie. Schottisch ist in Edinburgh fast nur das Dienstpersonal - und Maggy Thatchers Kulturpolitik. Das britische Theater befindet sich derweil auf dem Rückzug ins Private, die Kunstform der Thatcher-Dekade ist die „Soap Opera“.

„Tattoo Queue, please here.“ Gelbe Schilder weisen die Besucher des großen Zapfenstreiches auf der „königlichen Meile“ von Edinburgh in die Schlange. Artig warten übermüdete Campingbus- Chauffeure aus Pisa, Europa-trippende Rentner aus dem tiefen Iowa und wie immer anspruchsvoll -leger gekleidete bundesdeutsche Touristen auf den Einlaß zum militaristischen Spektakel im von Stahlrohrtribünen verschandelten Burghof. Zehn Pfund, gute 30 Mark, für dumpf -dröhnende Marschmusik, auf und ab paradierende Bärenfellmützen, tartanberockte Schottenbeine und bauchfellerschütternde Dudelsackklänge vor der in grelles Scheinwerferlicht getauchten Schloß-Kulisse: Hauptsache Geschichte. Nein, vom eigentlichen Edinburgher Festival, so sagt uns die Dame aus Köln-Ehrenfeld, habe sie noch überhaupt nichts mitbekommen. „Da jibt et ja so vill zu sehe, da wisse mer ja jar nisch, wo wer hinloofe solle.“

Wo anderen Städten ein Festival genügt, organisiert Edinburgh jedes Jahr aufs Neue einen kulturellen Anschlag auf die Sinne der Besucher. Allein das 1947 gegründete „Fringe“, eigentlich das Festival „am Rande“, bietet in den drei Augustwochen mittlerweile 500 Theatergruppen mit über 900 verschiedenen Shows auf. Wen das nicht ausfüllt, der kann sich noch die 192 Filme des parallel laufenden Filmfestivals ansehen, Dutzende von Jazzkonzerten besuchen oder seine letzten Urlaubspfunde für eine der zahlreichen Premieren des „Offiziellen Festivals“ ausgeben: für Shakespeares „Tempest“ made in Japan, für englisches Post -Punk-Tanztheater und sizilianische Puppenspiele, für das südafrikanische Musical „District Six“, japanische Rockmusik oder für „Nixon in China“, die Oper zur Ping-Pong-Diplomatie der siebziger Jahre.

Schottisch ist nur

das Dienstpersonal

Zum Glück ist da die einzigartige Kulisse der Edingburgher Altstadt, in der Dr.Jekyll und Mr.Hyde ihr Unwesen trieben, und die viktorianische „New Town“, mit der sich die Bourgeoisie zur gleichen Zeit ihre Vorstadt schuf. Denn vom Spielplan allein her ließe sich der Ort des kulturellen Geschehens so wenig bestimmen wie der Standort eines „Hilton“ aus dessen Hotelbar. Der wunderbar erotische Edinburgher Akzent wird im August nur vom Dienstpersonal gesprochen, die Bühnen sind fest in englischen und ausländischen Händen. Auch wer außerhalb der Festivalzeit nach schottischem Theater sucht, wird enttäuscht.

Die Beinahe-Nation leistet sich zwar eine Fußballnationalmannschaft, aber kein schottisches Nationaltheater. Und bald wird es sowieso gleichgültig sein, ob die europäische Kulturhauptstadt Berlin oder Glasgow heißt, ob das Festival in Locarno oder Edinburgh stattfindet, die Festival-Industrie wird uns dies mit ihrem Kult des Kosmopolitismus schon vergessen machen.

In der Hotelbar wird hart verhandelt. „147 Francs pro Schauspieler pro Tag Taschengeld“, übersetzt die Dolmetscherin aus dem Russischen ins Englische, und der französische Impresario schlägt ein. „Sie sehen“, läßt der Vertreter des „Georgischen Studios für Filmschauspieler“ weiter übersetzen, „unsere Truppe ist noch spottbillig.“ Zwei Stunden zuvor hatte das Schauspieler-Ensemble aus Tiflis einen „Don Juan“ auf die Bretter gelegt, der Moliere und selbst Mnouchkine begeistert hätte. Zu fetziger Jazzmusik waren Don Juan und sein Diener Sganarelle so überzeugend, so gestenreich und komisch über die Bühne gewirbelt, daß wir Zuschauer unsere mangelhafte Beherrschung der georgischen Sprache streckenweise vergaßen. Allein die überraschenden Eingriffe der in den Handlungsablauf integrierten Suffleuse, die im Stil einer taz-Säzzerin unentwegt dazischenfuhr, mitheulte, frohlockte und den Text des am Sinn des Lebens zweifelnden Don Juan immer dann übernehmen mußte, wenn dieser wieder allzusehr von seinen Verführungskünsten in Anspruch genommen wurde - allein dieser dramaturgische Trick war das Eintrittsgeld wert. Die Georgier werden von Edinburgh nach Paris reisen und hoffentlich demnächst auch in unserem Theater spielen, wenns geht, mit einer Simultan-Übersetzung, bitte.

Auch nebenan in der „Edinburgh Suite“ wird ein Moliere gegeben. „Der Menschenfeind“ als Anti-Yuppie, ein aufrechter Moralist, der im London der achtziger Jahre von Strebern, Schmeichlern und Opportunisten aus der Medien-Schickeria umgeben ist. Die hervorragende Inszenierung der britischen „Red Shift Company“ legt nahe, daß Moliere schon 1665 geahnt hat, welch furchtbares Ende die Medienkultur im späten 20.Jahrhundert einmal nehmen, welch übles Spiel sie mit ihrem hilflosen Publikum treiben würde. „Schmeicheleien kommen leicht daher“, sagt der verbitterte Alceste. Und Verrisse, so möchte man ergänzen, waren deshalb auch in Edinburgh eher selten. Selbst mittelmäßige Vorstellungen wurden in der ersten Festivalwoche von sogenannten Kritikern in Superlativen besprochen, die anschließend - auf Programmheft-Format zurechtgestutzt - neue erwartungsvolle Zuschauer wie die Lemminge in die Langeweile lockten. Die Kritiker brauchen ihre „Höhepunkte“ und Sensationen genauso wie Edinburgh sein Festival. Solange der sommerliche Touristenschwarm alljährlich 80 Millionen Pfund (250 Mio. Mark) in die lokale Ökonomie pumpt, scheint es kaum einen zu stören, daß das Fringe längst vom Rande in die Mitte gerückt ist. Statt bei experimentierfreudigen Theatergruppen spontan vorbeizuschauen, muß mittlerweile selbst bei mittelmäßigen Shows mit Kreditkarte übers Telefon vorgebucht werden.

Etwas nachdenklich verlassen wir die „Assembly Rooms“ und stürzen uns ins bunte Geschehen des Straßenkarnevals, der das Festival auf Bürgersteigen und an Straßenecken begleitet. Es ist, als hätten sich alle Straßenmusikanten Europas im Athen des Nordens versammelt, um den Besucher mit Gitarrenklängen, Tanz und Mime auch noch die letzten Pennies aus der Tasche zu ziehen. Vor der Schottischen Nationalgallerie balancieren Clowns auf Hochrädern, singt ein Bongo-begleiteter Barde frühe Bob-Dylan-Songs. Aber auch reiche Männer, die mit der Kunst spielen, gibt es in Edinburgh live.

Niemand dürfte die Synthese von Kunst und Mammon, der auch auf diesem Festival reichlich gehuldigt wurde, besser verkörpern als der 62jährige japanische Geschäftsmann, Verleger, Kunstsammler und Stückeschreiber Zenya Hamada. Um die Fringe-Aufführung seines Stückes „Picasso“ bekanntzumachen, trug er Teile seines nicht unerheblichen Vermögens in zwei der Edinburgher Spielkasinos und gewann mal eben 60.000 Mark; womit er anschließend eine ganzseitige Anzeige für sein Stück im 'Scotsman‘ finanzierte. Fasziniert von großen Männern hatte er im vergangenen Jahr sein Stück „Goya“ nach Edinburgh gebracht, nicht ohne zuvor zu Studienzwecken ein paar Schinken des Meisters erworben zu haben. Gerüchten zufolge soll sein geplantes Stück über „Das Leben Modiglianis“ im nächsten Jahr gar im Rahmen des Offiziellen Festivals aufgeführt werden. Vorausgesetzt Mr.Hamada verspricht den Organisatoren das zu liefern, was die Kulturpolitik der Regierung Thatcher den Stadtvätern und Festival-Machern immer mehr versagt: Cash für die Künste, auf Neuenglisch „Sponsorship“ genannt. Daß sein „Picasso“ in diesem Jahr erbärmlich schlecht gewesen sein soll, scheint hier keine Rolle mehr zu spielen. „Kunst kommt von können“, hatte unser seliger Musiklehrer immer behauptet, denn „wenn es von Wollen käme, müßte es Wulst heißen!“

Gekonntes wurde uns dagegen im „Traverse Theatre“ geboten, eines der erfolgreichsten Off-Theater Großbritanniens. Zur Matinee wurde „Whale Nation“ rezitiert, ein wundervolles Liebesgedicht an die Wale von Heathcote Williams. Submarine Fakten und Fiktionen, Wissenschaft und Sprache werden hier zu einer enthusiastischen Ode an die friedlichen Meeressäuger geformt, deren Intelligenz, Spielfreudigkeit und Ungefährlichkeit ihrer Spezies das Ende zu bringen drohten. Im Jahr des weinenden Seehundes wird das mit faszinierenden Bildern und Informationen ausgestattete Buch zum Gedicht - demnächst auch bei „2001“ - mit Sicherheit ein internationaler Bestseller werden.

Am Nachmittag folgte im „Theatre Upstairs“ des Traverse ein Stück des sowjetischen Autoren Alexander Isaakovich Gelman, einem Freund Gorbatschows. „Ein Mann mit Verbindungen“ steht in der Tradition sowjetischer „Arbeitsplatz-Dramen“ und läuft seit Wochen erfolgreich im Moskauer „Theater der Künste“. Nach der Betrachtung des Zwei-Personen-Stücks versteht der Zuschauer, warum das Moskauer Parteikomitee Gelman als Delegierten zum jüngsten Parteitag der KP in Moskau ablehnte. Der Autor, dessen effektvolle dramatische Ausbeutung der Konflikte zwischen Arbeitsethik und Erfolg, zwischen Karriere und Familienleben in Edinburgh begeisterte, dürfte es sich mit seiner Kritik an Vetternwirtschaft und dem Diktat der Planerfüllung bei so manchem Parteifunktionär der alten Schule verdorben haben.

Nach ähnlich brisantem Stoff aus britischen Federn gefragt, muß der Theater-Kritiker des 'Guardian‘ in der Bar des Traverse passen. Dissidenten-Kultur, originelles Theater und scharfzüngiges Kabarett, so tragen wir unsere bisherigen Festival-Erlebnisse zusammen, kommen in der Regel aus dem Ausland: spannendes Improvisationstheater von der Truppe „The First Amendment“ aus New York, subversiver Humor vom Afrikaner Pieter-Dirk Uys aus Südafrika und selbst Stücke über Aids mußte ausgerechnet Edinburgh, Europas heimliche Fixer- und Aids-Hauptstadt, aus den USA importieren. „Wir waren halt noch nie eine experimentierfreudige Nation“, sagt der heimische Kritiker, traurig ins Bierglas blickend, „auch nicht im Theater.“ Statt hart-attackierender Polit-Satire und kritischen Kommentaren zum traurigen Stand der britischen Nation in Dramenform wird - von Ausnahmen abgesehen - nur das Privatleben auf die Bühne gehoben. Die Einführung der sogenannten „Poll Tax“ - einer von unten nach oben umverteilenden Kopfsteuer, die im April an den Schotten ausprobiert wird - dieser reale, regierungsoffizielle Hooliganismus ist provozierender als das, was das britische Alternativtheater auf die Bühnen bringt. Von den Studentengruppen - die jahrelang das Salz in der Fringe -Suppe waren - über die schon etablierten regionalen Theatergruppen wie die „Hull Truck Theatre Company“ (demnächst auf BRD-Tour) bis hin zu den „stand up„ -Komödianten, deren Witze auch schon bissiger waren, reflektiert die britische Theaterwelt kritiklos den allerorts praktizierten Rückzug ins Private.

Die wahre Kunstform der Thatcher-Dekade, das hat Edinburgh in diesem Jahr endgültig bewiesen, ist die „Soap Opera“. Die seifige Sozialsatire, diese Schmiere nostalgischer Selbstbespiegelung, ist längst über den Bildschirmrand geschwappt und breitet sich auch auf der Kinoleinwand und den Bühnenbrettern aus.

Fringe of the Fringe

Vor dem „Traverse“ auf dem Grassmarket, wo vor 100 Jahren noch 20.000 Bürger Edinburghs zum Schauspiel öffentlicher Hinrichtungen drängten, hetzen jetzt mit Utensilien bepackte Amateur-Akteure zu ihren Abendvorstellungen. Nach den letzten Proben in der engen angemieteten Zweizimmer-Wohnung oder gar auf dem Zeltplatz draußen vor der Stadt sind einige von ihnen auf dem Weg zum „Edge“, einer als Spielstätte genutzten Schule in der Drummond Street. Im letzten Jahr als „Fringe of the Fringe“ aus der Taufe gehoben, ist sie auch diesmal die Zufluchtstätte für spontanes Experimentiertheater.

Da ihnen das Fringe-Festival zu teuer und zu institutionalisiert erschien, schufen die Organisatoren des „Edge“ einen neuen Tummelplatz für alle spielwilligen Theatergruppen und Kabarettakte. Eintritt, so wie er überall sein sollte: umgerechnet 80 Pfennige. Hier treten die Gruppen auf, die noch ohne Hochglanz-Pressemappe nach Edinburgh gekommen sind, ohne Promoter und ohne den sonst weitverbreiteten Wunsch, endlich „entdeckt“ zu werden und binnen eines Jahres im TV aufgetreten zu sein. Verglichen mit den etablierteren Spielstätten des Fringe bleibt der Zuschauerzuspruch des „Edge“ allerdings auch in diesem Jahr gering.

Als wir auf unserem Rückweg vom „äußersten Rand des Alternativtheaters“, angefüllt mit Eindrücken, von denen nur wenige bleiben werden, und vollgesogen mit Worten, von denen allzuviele überflüssig waren, die „Royal Mile“ heraufspazieren, finden wir uns plötzlich im kulturellen „Mainstream“ wieder.

Zu den nicht endenwollenden Klängen von „Amazing Grace“ strömt uns die internationale Touristenbrigade vom großen Zapfenstreich entgegen, vorbei an dem Parlament, das 1707 zum letzten Mal tagte, zurück zu den Hotels und Bed & Breakfast-Krippen. „Beeindruckend“, „diese Uniformen“, „was für Farben“ und „nein, diese Schottenröcke“ schallen fremdländische Wortfetzen in den Abendhimmel über Edinburgh, der Hauptstadt ohne Land, aber dafür mit dem größten Festival-Spektakel Europas.