: Todesstoß für die Idee einer anderen Türkei
Nach acht Jahren wurde der Prozeß gegen 814 Bewohner der Kleinstadt Fatsa beendet / Acht Todesurteile, 14 lebenslange Haftstrafen und 313 Freiheitsstrafen bis zu 20 Jahren verhängt / In Fatsa war versucht worden, ein sozialistisches Modell zu verwirklichen ■ Von Kurt Ullusch
Berlin (taz) - Am Mittwoch nachmittag schloß das Kriegsgericht Nr.3 in der osttürkischen Stadt Erzincan die Akten über einen Prozeß, mit dem die Militärjustiz einen Schlußstrich unter das aufregendste Kapitel türkischer Politik vor dem Putsch 1980 zog. Angeklagt war fast die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung der Kleinstadt Fatsa am Schwarzen Meer. Nach acht Jahren Prozeß verhängte das Gericht achtmal die Todesstrafe, 14mal Lebenslänglich. Gegen 313 Angeklagte verhängte das Kriegsgericht Freiheitsstrafen zwischen einem und 20 Jahren. 434 Fatsaner wurden freigesprochen. In Fatsa war 1979 ein Mann zum Bürgermeister gewählt worden, der aus seiner Sympathie für die linke Organisation Devrimci Yol keinen Hehl machte und sich anschickte, die Kleinstadt in ein sozialistisches Modell zu verwandeln. Möglich wurde dies, weil Fikri Sönmez, der Schneidermeister, in seiner Stadt große Popularität genoß. Er begann, seine Kommune basisdemokratisch zu organisieren. Damit wurde Fatsa für die türkische Linke zu einem vorzeigbaren Beispiel konkreter Utopie, für die gesamte Rechte dagegen zum bevorzugten Objekt ihres Hasses.
Aufgrund dieser exponierten Stellung wurde Fatsa zum ersten Opfer des Militärputsches. Als Ouvertüre für den 12.September marschierte die Armee im August 1980 in der Stadt ein und beendete das Experiment mit Maschinengewehren. Über die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung der Kleinstadt wurde interniert, gegen 814 Personen Anklage erhoben. Noch 1980 begann der Prozeß.
Vorgeworfen wurde den Fatsanern die „Errichtung der Herrschaft einer Klasse über eine andere“, ein Staatsschutzparagraph, den die Türken bei Mussolini abgeschrieben hatten.
Hauptangeklagter war der gewählte Bürgermeister Fikri Sönmez. Der revolutionäre Schneider erlebte das Ende des Prozesses nicht mehr. Bereits vor drei Jahren wurde er im Gefängnis zu Tode gefoltert. Mit welcher Brutalität Geheimdienst und Militär gegen die Angeklagten von Fatsa vorgingen, wird daran offenkundig, daß außer Sönmez weitere 14 Angeklagte in Untersuchungshaft ermordet wurden.
Dieses Vorgehen ging selbst den Militärs in Ankara zu weit. Der verantwortliche Staatsanwalt, der ursprünglich die Verhängung von 341 Todesurteilen gefordert hatte, wurde abgelöst und selbst angeklagt. In Fatsa ist das Rad der Geschichte längst zurückgedreht. Seit Aufhebung des Kriegsrechts regiert wieder die Clique, die durch die Wahl Fikri Sönmez entmachtet worden war.
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