Als die Frauen Reisen lernten

Andrea Seibel ALS DIE FRAUEN REISEN LERNTEN

Ab 1870 unternahmen mehr Frauen als jemals zuvor Reisen in entfernte und exotische Länder. Sie reisten allein, waren mittleren Alters und oft bei schlechter Gesundheit. Was trieb sie? Reisen als Medizin

„Es ist so schade, daß Du mich nie so sehen kannst, wie ich jetzt bin: ungezwungen, bereit zu allem“, schrieb 1873 die 42jährige Isabella Bird an ihre Schwester Henrietta im heimatlichen England. Sie war gerade per Pferd unterwegs in den Rocky Mountains, nachdem ihr 1872 von ihrem Arzt eine Reise „verschrieben“ worden war. Isabella Bird war ziemlich krank. Zu Hause. Da quälten die ledige Pfarrerstochter, die mit ihrer tief religiösen und als Heiligen verehrten Schwester in einem kleinen Dorf lebte, brutale Rückenschmerzen, und sie wurde mehr und mehr depressiv. Kaum war sie unterwegs, konnte sie nichts mehr erschüttern. „Very pleasant“ wäre ihre Schiffsreise auf dem Schrottkahn „Nevada“, schrieb sie mit feinen Federstrichen an ihr Alter ego Hennie, und das, obwohl ein Hurrikan das Schiff beutelte. Sie strickte, schlug zwischendurch mutig Kakerlaken tot, und wenn's nicht allzu stürmisch war, spielte sie Wurfring auf Deck. „Ich bin verliebt. Der alte Meeresgott hat mein Herz gestohlen. Für mich ist das alles wie ein neues Leben, so vital, so sorgenlos, so voller Interesse, daß man am liebsten gar nicht schlafen möchte. Vor allem, keine Nervosität, keine Konvention, keine Etikette. Es klingt nach einem gräßlich egoistischen Leben.“

Der Rhythmus - Krankheit zu Hause / Vitalität unterwegs bestimmte ihr ganzes Leben. Schon als 23jährige war sie zur Kur auf Reisen geschickt worden. Was erwartete sie auch schon zu Hause? Teestunden, Gottesdienst, Pflege von Familienangehörigen oder der Kranken der Gemeinde. Isabella Bird wollte mehr. Nur nicht unbedingt heiraten. Ihre Krankheit war ihre Rettung. Sie starb 1904. Die Koffer für eine Chinareise waren schon gepackt. Reisen als Beweis

„Wow! Wow! Wow!“ schrie der Massai-Krieger und warf einen Speer, der zitternd vor ihren Füßen einschlug. „Wow! Wow! Wow!“ gellte May French Sheldon zurück, feuerte einen Schuß über seinen Kopf ab und steckte das Kleinod schnell für ihre Sammlung weg. Ethnologische Studien waren der eine Grund der Reise der Amerikanerin durch das Massai-Land zum höchsten Berg Afrikas, dem Kilimandscharo, 1891. Der andere war Stolz: Was Männer können, können Frauen genausogut.

May wurde 1848 in Amerika in eine Familie geboren, die wie könnte es anders sein - ihren Reichtum der Baumwolle, dem Zucker und dem Tabak verdankte. Im Gegensatz zu ihren britischen Zeitgenossinnen war schon ihre Erziehung liberaler. Nach dem frühen Tod der Mutter kümmerte sich der Vater, ein Mathematiker, um ihre Erziehung: sie durfte reiten, schießen, schwimmen, war kulturell interessiert, sie durfte sogar an den Männerrunden des Herrn Papa teilnehmen. Später übersetzte sie Flaubert ins Englische und schrieb einen Roman. Schon mit 16 Jahren machte sie die erste von insgesamt fünf Weltreisen. Irgendwann entschied sie sich, nach Afrika zu gehen, und studierte Geologie und Medizin. „Ho for East Africa“ besetzte alle ihre Gedanken.

Über hundert Freunde und Bekannte standen zum Abschied am Londoner Charing Cross Station. Die City verschwand wie üblich in einer dicken Nebelsoße. „Wenn du heil zurückkommst, welche Geschichten wirst du erzählen können!“, munterten Freunde sie auf.

Ihre mehr als 1.000 Kilometer lange Reise ging über Mombasa und Sansibar in das kriegerische Massai-Land nördlich des Kilimandscharo. 1840 waren dorthin erstmals Missionare gelangt. „Jambo! Jambo! Bebe mzunga?“ - „Wie geht es dir Frau Weißer Mann?“ riefen ihr erstaunte Einheimische zu, als sie stolz mit ihrem Troß vorbeizog, im Wanderkostüm und einen Stab schwingend, auf dem Noli me tangere („Rühr mich nicht an“) stand. Bebe bwana (Suaheli für: „Frau Boß“) hatte viel Gepäck: Zelt, Gewehr, Tisch, Stühle, Pistolen, Fotoapparat, eine Sänfte, jede Menge Garderobe, darunter ein phänomenales Ballkleid samt Schwert - und für all das 150 Träger aus Sansibar. Aus Angst, die Kontrolle als „Herrin“ zu verlieren, schoß sie mit ihren „baby-guns“ einen Vogel ab, um zu zeigen, wer der „Boß“ sei. Das funktionierte ganz gut.

Abends servierte sie ihren Trägern das Essen im Seidenkleid. Und als sie glücklich aus dem Massai-Gebiet heraus waren, zog sie ihr Ballkleid an und besuchte zwei Häuptlinge. Der Five o'clock durfte natürlich nicht fehlen. Außerdem versprach sie ihnen, „einen Schirm zu schicken“. Was sie später auch tat.

Auf der Rückreise fiel sie mit ihrer Sänfte in einen Fluß und kam beinahe um. Schwach und krank, erreichte sie Neapel, wo ihr Mann besorgt wartete: „Lebt sie noch?“ May French Sheldon wurde 1893 als eine der ersten Frauen in die „British Geographical Society“ als „fellow“ aufgenommen. Puritanerinnen

wie daheim

May French Sheldon war keine Feministin, und obwohl sie ihre eigene Kultur mit sich herumschleppte, verstand sie, sich auf das Neue einzustellen. Als ihr ein Häuptling aus Respekt auf die funkelnden Steine ihres berühmten Ballkleides spuckte, zuckte sie mit keiner Wimper und auch die Nacktheit der Stämme brachte sie nicht gleich dazu, deren „Scham“ bedecken zu wollen.

Doch auch sie war Tochter ihres Vaters, Kind ihrer Zeit: Die viktorianische Gesellschaft unterwarf die Frau von Geburt an, bog sie zu Selbstdisziplin und -aufgabe. Sich gegen den Vater aufzulehnen, hieß, Gott zu stürzen. „Er war von Anfang bis zum Ende das Idol und der Freund meines Lebens“, schrieb eine andere.

Einziges Ventil für wohlhabende Mittelstandsfrauen war: weg von allem, unterwegs sein. Die Freiheit, die sie hierbei genossen, war ihnen zu Hause versagt. Gestützt auf die Werte westlicher Zivilisation, überzeugt von der Richtigkeit ihres Tuns, brachte die Reisende des ausgehenden 19.Jahrhunderts Tausende Meilen hinter sich - schreibend, malend, beobachtend, botanisierend, fotografierend. Die Frauen reisten durchs „kannibalische“ Afrika, durchquerten das unbekannte China, saßen auch im Wilden Westen fest im Sattel, und immer schrieben sie nette Briefchen nach Hause. Sie wollten allein sein, sie selbst sein inmitten der Fremde, und wenn sie sich einmal zufällig begegneten, dann machten sie höflich einen großen Bogen umeinander. Das Abenteuertum der Männer, deren Lagerfeuerromantik, war ihnen suspekt.

Fast scheint es, als hätten sie Angst gehabt, aus reiner Freude zu reisen. So schrieben sie Notizbücher randvoll mit langweiligen Fakten und erzählten leider viel zu wenig von sich. Moralische Reflexionen und Tips zum guten Benehmen machten einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Ergüsse aus.

Natürlich erwuchs ihr Selbstbewußtsein aus der Tatsache, daß sie „Töchter“ des britischen Empire waren - und das in einer Hoch-Zeit männlichen Forscher- und Entdeckertums. Dennoch wollten sie Ladies in allen Lebenslagen bleiben - ob in London oder Lhasa: in gestärkter Bluse und Kostüm, gewappnet mit Regenschirm und Fliegennetz, ins Korsett gezwängt, geraden Blickes und Schrittes. „Tragen Sie immer Korsett“, schrieb Constance Larymore aus Afrika 1902 an ihre Leidensgenossinnen, als ihre Woll-Merino-Kombination bei 40 Grad Celsius an ihr klebte. „Alles andere ist einfach schamlos.“ Das Vorurteil der Frauen gegen Hosen war grenzenlos. Mary Kingsley, die jahrelang Westafrika bereiste, und die ansonsten sehr praktisch und eine Erzfeindin von Humbug war, „wollte lieber aufs Schafott“ steigen als ihre „erdwärtigen Extremitäten“ mit diesem Zeug bedecken. Vollen Ernstes behauptete sie, im Dschungel sei ein Rock einfach optimal. Und als die 'Times‘ schrieb, Isabella Bird würde in den Rocky Mountains „in männlicher Kleidung“ reiten, da verlangte sie Satisfaktion von ihrem Verleger. Reisen für Gott

Drei Tagesmärsche von der für Ausländer damals unter Todesstrafe verbotenen tibetischen Hauptstadt Lhasa entfernt wurde Annie Taylor 1889 als Engländerin erkannt und verhaftet. Nach mehr als sieben Monaten Marsch über Schnee und Eis, in teilweise 4.000 Meter Höhe und bei 18 Grad minus, mußte sie mit ihren Trägern umkehren und nach Darjeeling zurückkehren. Eine ihr angebotene Eskorte von Soldaten lehnte sie ab: „Ich bin Engländerin, ich habe keine Angst um mein Leben.“

Die Blütezeit des britischen Kolonialismus war auch eine Hoch-Zeit des Protestantismus. Ganze Armadas von MissionarInnen zogen los, um den „Wilden“ Gottes Wort zu lehren. Es gehörte nur Mut und Passion dazu: und schon war das Leben vielleicht anstrengender, aber auch befriedigender und spannender, denn als alte Jungfer in Tee oder Migräne zu ertrinken.

Annie Taylor, 1855 geboren, war eine dieser Dienerinnen des Herrn. Über 800 von ihnen waren allein in China um die Jahrhundertwende in allen Provinzen „stationiert“. Einige entpuppten sich während ihrer Missionsarbeit als Entdeckerinnen, wie beispielsweise Mildred Cable, die die Wüste Gobi durchzog und beschrieb.

„Ziemlich sicher hier mit Jesus“, schrieb Annie Taylor in ihre Tagebücher. Nachdem sie anfänglich in China gearbeitet hatte, zog es sie immer wieder nach Tibet. „Die Tibeter sind religiös ..., arme Dinger, sie kennen nichts anderes, niemand hat ihnen jemals von Gott erzählt.“ Landschaft und Leute interessierten sie nicht, ihre Welt war die inwendige. Sie wollte nur die armen tibetischen Seelen retten. Und weil sie nicht wieder ins Land konnte, siedelte sie sich an der Grenze von Sikkim und Tibet an, in einem Zimmer, das sie „Lhasa Villa“ nannte. Annie „anni“ - tibetisch für eine respektierte unverheiratete Frau - ging 1909 todkrank zurück nach England und starb an einem unbekannten Ort. Reisen total:

Emigration

Bis ins Zwanzigste Jahrhundert emigrierten Tausende britischer Frauen. Während die betuchten Mittelstandsfrauen dem viktorianischen Korsett, das sie dann doch immer bei sich trugen, entkommen wollten, verließen die anderen aus ökonomischem Grund ihr Land. Sie hatten keine Existenzgrundlage mehr, waren gebildet, aber mittellos viele von ihnen protestantische Pfarrerstöchter - und unverheiratet. Die viktorianische Gesellschaft ließ ihnen neben dem Missionieren nur den Beruf der Gouvernante oder Lehrerin übrig. Im Jahr 1840 inserierten täglich 100 Frauen in der 'Times‘. 1862 wurde die „Female Middle Class Emigration Society“ gegründet. Emigration wurde zur favorisierten „Lösung“ der sozialen Probleme des Landes für die weniger Betuchten. Während Proletarierfrauen zur Prostitution gezwungen wurden, ging die Mittelstandsfrau als „English Governess“ in die Annalen britischer Sozialgeschichte ein. Viele reisten in die Kolonien oder wanderten nach Amerika, Neuseeland und Australien aus. Tausende gingen nach Rußland. Dort hatte die britische Gouvernante ob ihrer Widerstandsfähigkeit bald die französische überholt. Puschkin verewigte sie im Bild jener „Miss Jackson“, die, in ein Korsett gezwängt, „im barbarischen Rußland vor Langeweile“ umkam...