„Ein bißchen viel Freiheit“

Verkehrsberaterin Brigitte Kunze vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) zu den Unfallzahlen  ■ I N T E R V I E W

taz: Die Zahl der Verkehrstoten ist alarmierend gestiegen. Wo liegen die Ursachen?

Brigitte Kunze: Hauptursache ist der fehlende gesellschaftliche Konsens für vernünftiges Fahren. Vernünftig heißt defensiv, freundlich und langsam. Unser heutiges Lebensgefühl wird von Hektik bestimmt, man fährt schnell, man rast und man darf auch rasen.

Ist die veränderte Autoflotte mit ein Grund für die Unfallzunahme?

Die Autotechnik geht in die falsche Richtung: mehr PS, mehr Power. Zugleich werden die Autos angeblich immer sicherer, was wiederum zu riskanterem Fahren führt.

Anfang der 80er Jahre bekam die Unfallstatistik einen Knick. Lag dies nur am Gurt?

Vieles ist mit dem Gurt zu erklären, aber auch Rettungswesen und Intensiv-Medizin wurden verbessert. Anfang der 80er kam aber die Diskussion um Waldsterben und Tempolimit dazu und damit ein verändertes Bewußtsein. Dieser Trend hat sich umgekehrt.

Mein Auto fährt auch ohne Wald.

Ja, das Waldsterben wird einmal im Jahr zum Thema, wenn der Waldschadensbericht vorliegt. Ansonsten: Sendepause.

Verkehrsplaner behaupten, daß die Zahl der Unfälle seit Jahren linear ansteigt, ebenso wie die gefahrene Geschwindigkeit, und daß sich lediglich die Zahl der Toten verändert.

Das stimmt. Zugleich hat die Zahl der mit dem Auto pro Jahr gefahrenen Kilometer immer stärker zugenommen. Der normale Sonntagsausflug einer deutschen Familie hat heute schon 80 Kilometer Länge, um dann anschließend in der schönen Natur spazieren zu gehen.

Ist eine große Koalition zur Zähmung des Autos machbar?

Wir wünschen sie uns natürlich. Die erste Forderung muß ein Tempolimit sein, das notfalls gegen das gesunde Volksempfinden durchgesetzt wird. Die BRD ist der weltweit einzige Staat mit Autobahnen ohne Tempolimit. Wir brauchen eine schärfere Überwachung der Geschwindigkeiten mit kurzfristigem Führerscheinentzug. Vernünftiges Fahren ist aber nicht nur über Bußgelder durchsetzbar. Es muß auch in den Köpfen der Autofahrer was passieren.

Und wie soll dies passieren? Die guten Argumente liegen auf der Straße. Daß sich so wenig durchsetzen läßt, kann doch nicht nur an der Macht der Autoindustrie liegen?

Es ist nicht nur die Industrie, es ist die Macht der Auto -Lobby. Dazu gehören auch alle, die einen dicken BMW oder Mercedes in der Garage stehen haben. Die können sich schwer mit Tempo 100 anfreunden.

In der Diskussion wird vielleicht zu wenig auf die Bedürfnisse nach Mobilität, Unabhängigkeit und Freiheit eingegangen, die immer noch mit dem Auto verbunden werden.

Die Sehnsüchte, die mit schnellen Fahren erfüllt werden, sind Ersatzbefriedigungen. Aber die Sehnsucht nach Freiheit und schnellem Fahren hört da auf, wo es um mehrere tausend Verkehrsopfer geht. Das ist ein bißchen viel Freiheit.

Interview: Manfred Kriener