Begeisterung für Tempo 110

Studienrat Heinz Laufer aus München war zuerst „zwischen skeptisch und stinksauer über das, was die sich da wieder ausgedacht haben“. Automechaniker Bernhard Biel aus Hannover fand sogar, daß man „die eigentlich ein Jahr mal boykottieren müßte“, und Pensionär Günther Neubauer aus Bayreuth wollte „zuerst zumindest nicht daran glauben, daß das auch funktioniert“.

Doch auf einmal gehören alle drei zur Fan-Gruppe eines Dekrets, das noch vor wenigen Wochen hohe Wellen geschlagen und internationale Verwicklungen gebracht hatte: die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 110 km/h auf Italiens Autobahnen. „In den 15 Jahren, die ich jedes Jahr bis fast nach Neapel durchfahre“, berichtet Günther Neubauer, „bin ich noch nicht einmal ohne Staus durchgekommen - diesmal war vor dem Brennertunnel der letzte, und dann nix mehr.“ Auch Porschefahrer Biel kam diesmal „eine glatte halbe Stunde schneller nach Bologna als sonst“, und Lehrer Laufer fand seine „Ente“ endlich „mal nicht mehr von ausscherenden Ferrari-Rasern und einscherenden Sattelschleppern blockiert“.

Bundesdeutsche Südfahrer sehen sich mit einem Urerlebnis konfrontiert: statt dem von ADAC und dem italienischen Bruder ACI pophezeiten„Schneckentempo“ geht es im großen Ganzen zügiger voran als vordem: „Da es weniger schwere Unfälle gegeben hat“, resümiert der für das Tempodekret verantwortliche Minister für öffentliche Arbeiten, Enrico Ferri, „kommt es zu weniger Staus, und die Straßen sind weniger blockiert.“

Seine Statistik jedenfalls kann sich sehenlassen: in den sieben Wochen Dekretgültigkeit sind, trotz einer Zunahme der Verkehrsbewegungen um nahezu sechs Prozent, 100 Menschen (gleich zwölf Prozent) weniger als im Vorjahr umgekommen, und am dritten Augustwochenende - traditionell das verkehrsreichste des Jahres - gar 40 Prozent weniger (38 gegenüber 64).

Auch die Zahl der Verletzten hat abgenommen: um fünf Prozent in den letzten sechs Wochen, um zehn Prozent am dritten Augustweekend. Die Zahl der gemeldeten Staus lag um volle 30 Prozent niedriger als zur gleichen Zeit 1987. Trotzdem entwickelt sich inneritalienisch eine heftige Debatte um eine Verlängerung des Dekrets - der sozialdemokratische Minister ist einigen Kabinettskollegen mit seiner Verordnung offenbar zu populär geworden, da allen Unkenrufen zum Trotz zwei Drittel der Italiener inzwischen die Geschwindigkeitsbeschränkung akzeptieren, die Hälfte davon sie sogar auf Dauer beibehalten möchte. So greifen Dekretgegner denn auch zu obskuren Argumenten, um Ferris Initiative zu Fall zu bringen. Die Liberalen im Kabinett brummeln, daß „ja sowieso nur jeder siebte Verkehrstote wegen überhöhter Geschwindigkeit stirbt“ (was tatsächlich den Dekreterfolg noch erhöht), und der republikanische Postminister Oskar Mammi verweist verwegen gar auf die BRD „dort müßte es doch dann viel mehr Verkehrstote geben als bei uns.“ So ist es: um fast zehn Prozent liegt die Bundesrepublik inzwischen höher.

Tatsächlich sehen sich die Vorkämpfer einer globalen „Verkehrsberuhigung“ in Italien, wie etwa der frühere Kulturdezernent Roms Renato Nicolini, in ihren jahrelangen Bemühungen bestärkt: „Dort, wo wir in historischen Altstädten und Wohnvierteln die Zahl der Autos beschränkt, die Geschwindigkeit - notfalls mit Holperschwellen und Zickzacklinienführung - limitiert haben, bewegt sich nicht nur die Kurve der Unfälle abwärts, sondern nach neuen Erhebungen gehen auch die alltäglichen Aggressivitätsausbrüche und viele nervöse Erkrankungen in den Vierteln deutlich zurück.“

Nicht alle ausländischen Italienfahrer haben freilich inzwischen so viel Verständnis für gesperrte Innenstädte und Kontrollen auf den Straßen wie Heinz Laufer, Bernhard Biel und Günther Neubauer. Am „Teutonengrill“, der Raststätte Cantagallo bei Bologna, stürmte ein BMW-Pilot mit deutlichen Mordgelüsten ins Lokal und berichtete von „dem glatten Tausender“, den sie ihm „wegen der Scheiß-110 abgenommen haben“. Dafür mußte er schon gute 180 gefahren sein, und das wäre auch bei der vorhergesehenen 140er-Regelung so teuer gekommen. In der Bundesrepublik wäre ihm bei 40 Stundenkilometern zuviel glatt der Führerschein abgenommen worden. Doch Fahrverbote gibt es in Italen, zum Glück für ihn, bisher noch nicht.

Werner Raith