Tatort Straße - Tatwaffe Auto

■ Die deutschen Straßen werden immer gefährlicher / Unfallstatistik vermeldet Rekord an Todesopfern

Aufgeschreckt von der neuen Halbjahresbilanz der Unfallstatistik '88 werden sich kommende Woche die führenden Verkehrsexperten zu einer Fachkonferenz im Bonner Verkehrsministerium einfinden. Bislang haben die Bonner Ideologen des „Freie Fahrt für freie Bürger“ es noch regelmäßig verstanden, alle Erkenntnisse aus Modellversuchen mit Geschwindigkeitsbegrenzungen ignorant zu übergehen und Erfahrungen aus dem Ausland als Anschlag auf die Autoindustrie zu diffamieren.

Jedes Jahr, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO, droht auf den Straßen dieser Welt eine Todesgefahr, die in ihren Auswirkungen dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki entspricht. Eine Viertel Million Menschen werden jährlich im Straßenverkehr getötet, 100.000 allein in Europa. Zwei Millionen Verletzte weltweit fordert der Tatort Straße pro Jahr. Hauptwaffe: das Auto, Tendenz: steigend!

Die Bundesrepublik hat in den ersten sechs Monaten dieses Jahres ihren eigenen Rekord erreicht. Noch nie zuvor hat es auf bundesdeutschen Straßen so viel „gekracht“. Genau 996.705 gemeldete Unfälle registriert das Statistische Bundesamt in seiner jetzt veröffentlichten Halbsjahresstatistik. Das sind 2,3 Prozent mehr als im Vorjahr und so viel wie noch nie, seit die Statistiker über Verkehrsunfälle Buch führen. Für das Winterhalbjahr erwarten die Statistiker noch höhere Zahlen.

Dramatischer noch als der Rekord bei der in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegenen Unfallhäufigkeit: während die Zahl der Bagatell- und Sachschäden nur geringfügig zugenommen hat, stieg die der getöteten Personen um 10,5 Prozent auf 3.910. Auch die Zahl der Verletzten im Straßenverkehr nahm um 12,7 Prozent deutlich zu. Für mehr als 200.000 Menschen endete im ersten Halbjahr '88 das permanente Risiko Straßenverkehr im Krankenhaus oder beim Arzt. Nach einem kurzen statistischen Knick nach der Einführung der Gurtpflicht im Jahr 1984 steigt die Zahl der Getöteten und Verletzten auf den bundesdeuschen Straßen wieder deutlich an.

Kennzeichnend dabei ist, so fanden die Statistiker heraus, daß die Autofahrer selber dank Gurtpflicht und „Knautschzonen“ glimpflicher davon kommen als früher. Demgegenüber steigt das Risiko für die sogenannten „weichen“ Verkehrsteilnehmer, wie Fußgänger und Radfahrer im Fachjargon heißen. Besonders Radfahrer und Verkehrsteilneher über 65 Jahren leben gefährlicher als früher.

Dafür, daß die Zahlen in diesem Halbjahr so stark angestiegen sind, haben die Statistiker keine eindeutigen Erklärungen. Ein Indiz ist, daß ständig mehr Leute häufiger Autofahren und der milde Winter und der warme Sommer diesen Trend gefördert haben. Keine Spekulation, sondern statistisch erwiesen ist jedoch die Hauptursache der millionenfachen Karambolage mit häufig tödlichem Ausgang: nicht angepaßte Geschwindigkeit. Allein die Hälfte aller Verkehrstoten wurde Opfer der Raserei. Rund dreißig Prozent aller im Straßenverkehr Getöteten und Schwerverletzten waren Personen zwischen 18 und 24 Jahren.

Im europäischen Vergleich liegt die Bundesrepublik mit der Anzahl der Todesopfer im „schlechten“ Mittelfeld. Das Risiko, im Straßenverkehr verletzt zu werden, ist bei uns doppelt so hoch wie in Italien, Dänemark, Schweden oder den USA, ermittelten Anfang des Jahres Wissenschaftler des Deutschen Instituts für Urbanistik (DIFU). Am gefährlichsten leben die Bewohner West-Berlins, für die das DIFU-Institut eine Zahl von jährlich 79 Verunglückten pro 10.000 Verkehrsteilnehmer ermittelte. Zum Vergleich: auf der untersten Risiko-Stufe der untersuchten Städte steht Lüdenscheid, mit 25 Verletzten auf 10.000 Verkehrsteilnehmer. Berlin nimmt auch in diesem ersten Halbjahr eine dramatische Spitzenreiterposition ein. Gegenüber dem Vorjahr hat sich hier die Zahl der Todesopfer im Straßenverkehr fast verdoppelt.

Bei ihrer Suche nach den Ursachen dieser regionalen Unterschiedlichkeiten stießen die Wissenschaftler vom DIFU auf zahlreiche städtebauliche und verkehrspolitische Faktoren, die die Unfallträchtigkeit erhöhen. So konnten sie z.B. mit dem Vorurteil der Beton-Pisten-Lobbyisten aufräumen, daß breitere Straßen mehr Verkehrssicherheit schaffen. „Je breiter die Fahrbahnen ausgebaut sind, je umfangreicher das Straßennetz angelegt und je höher der Hauptverkehrsstraßenanteil gerade in Wohn- und Mischgebieten ist, desto höher ist in der Regel die Unfallbelastung der Gemeinde. Fahrbahnbreite bzw. Kapazität der Hauptverkehrsstraßen sind maßgeblich für die Geschwindigkeit und den Autoverkehrsanteil“, heißt das Hauptergebnis der Urbanistiker. Und obwohl gerade die Zahl der verletzten Radfahrer im ersten Halbjahr dieses Jahres gestiegen ist, weist die Berliner Studie nach, daß das Risiko für jeden einzelnen Radfahrer gerade in den Gemeinden sinkt, wo es radelnde Bündnisgenossen gibt.

Von den maßgeblichen Verkehrspolitikern blieb diese Studie bisher ebenso unbeachtet wie die Modellversuche mit Tempo 30 in der Gemeinde Buxtehude und Tempo 100 auf dem Kölner Stadtring. Beide Experimente hatten zu einem unübersehbaren Rückgang der Unfallzahlen geführt.

Vera Gaserow