HÖLLENTHEATER

■ Das „Theatre de la Sphere“ vor dem Reichstag

Selten genug haben Theatervorstellungen irgendwelche Ähnlichkeit mit dem, was in ihren Presseankündigungen versprochen wird - Anne Sicco, Autorin und Regisseurin des französischen „Theatre de la Sphere“, drohte für ihr Gastspiel „Ether - Je“ vor dem Reichstag mit folgendem: Die Stille werde „das Wesentliche zur Geltung bringen“, die Gebärde werde „die Wesen enthüllen und verbinden“, „unendlich geheime Bilder“ würden entstehen, um „dem Individuum den Blick und die Hellsichtigkeit“ zu geben. Für einen speziell motivierten (und wetterfesten) Teil des Publikums werden sich die Rätselworte der Marcel-Marceau -Schülerin vielleicht sogar eingelöst haben.

„Ether - Je“ ist sprachloses Theater. Da aber die Ohren nicht einfach anliegen wollen, steht unter der Reichstagstreppe ein kleines Zelt, randvoll mit Musikinstrumenten. Jean-Jacques Lemetre vom Theatre du Soleil bearbeitet mit einem Helfer unablässig etwa 30 Instrumente aller Art. Seine Musik illustriert, rhythmisiert, treibt das Bühnengeschehen an.

Agiert wird von 35 Schauspielern - darunter 16 aus Berliner „freien Gruppen“, die der Kultursenator dem Projekt spendiert hat - auf vier Schauplätzen: einer kleinen, kargen Stahlrohrbühne, einer doppelseitigen schrägen Rampe, einer Flußkulisse vor der Bühne und einem alles umgebenden Halbrund aus aufgeschüttetem Sand. Die Zuschauer sitzen im Wind auf der Reichstagstreppe.

Wer mehr wollte als nur befremdetes Staunen, mußte entweder gelernt haben, die Körpersprache des Mimodramas zu lesen oder er mußte die 14.229 Verse von Dantes „Göttlicher Komödie“ im Kopf haben. Dante geht, von Vergil geführt, durch Hölle und Fegefeuer, erreicht durch die Begegnung mit der geliebten Beatrice sein Paradies - Anne Sicco hat das in jeweils minutenkurze Gruppenarrangements aufgelöst. Fast nackte, lehmverschmierte oder weißgeschminkte Gestalten werden auf der Bühne hin- und hergetrieben, schleppen stolpernd riesige Säcke und Quader auf die Bühne, kriechen, rennen, kämpfen, zappeln aus den blauen Kulissenwellen hoch und versinken wieder. Die Bewegungen sind entweder langsam und schwer - als müsse die Energie gegen Widerstand aus dem Boden gezogen werden - oder eckig, hastig, wie von Krämpfen geschüttelt. Gesichter spielen keine Rolle; zu unterscheiden sind die Gestalten nur durch ihre Kostüme.

Nur vereinzelte Bilder konnten für sich stehen, mehr zeigen als nur die Summe ihrer Bewegungen; zwei Tangopaare sehen ihre Szene, bei versickernder Musik und einfrierenden Bewegungen, zu einem Geburtsritual werden. Ein Mann und eine Frau laufen durch ein ausgespanntes Tuch aufeinander zu, Koffer in der Hand. Aber wenn jeder Schritt zur heiligen Geste gemacht, jeder Auftritt mit stummer Vieldeutigkeit zelebriert wird, wirken solche exponierten Bilder, zumal mit Orgelklängen, plötzlich abgegriffen und leer.

Bei der Premiere des dreitägigen Gastspiels am Freitag mußten die (sarkastischerweise auf „Berlin tut gut„-Kissen gesetzten) Zuschauer außer Kälte und Wind auch noch heftigen Regen ertragen. Wer sich die kompletten vier Stunden lang (mit Wetter-Unterbrechung) der Reihung austauschbarer Bilder aussetzte, wird vielleicht gewünscht haben, daß wenigstens ein paar Sekunden lang die aufdringliche Musik aussetzt.

kno