ZWISCHEN DEN RILLEN

 ■  Die Lust, gegeneinander zu singen

Zwei Frauen singen vier Töne. Unerbittlich, gegeneinander. Zuerst eine Terz, dann die Sekunde, bis es weh tut. Die eine weicht nach oben aus, die andere folgt ihr. Jetzt singen sie denselben Ton. Aber nein: Die eine singt ohne jedes Vibrato, stur, glasklar, ungerührt - einen Sinuston. Die Stimme der anderen flattert derweil auf derselben Tönhöhe, blitzschnell, aber regelmäßig - eine Art Vierteltontriller erzeugend. Dabei klingt ihre Bewegung so synthetisch wie die Reglosigkeit der anderen. Beides zusammen macht Schwebungen, Obertöne, die in den Ohren klingeln: die Lust, gegeneinander zu singen. Die zwei ziehen sich an wie Magnete, aber zusammen kommen sie nie. Sie sind gleich gepolt.

Zwei Sängerinnen von 24, der Chor trägt den kitschigen Namen „Le Mystere des voix bulgares“, es ist der Frauenchor des bulgarischen Rundfunks. Er exportiert Folklore. Aber nichts von wegen „Da laß Dich ruhig nieder“ oder Lagerfeuer mit Gitarrenromantik. 24 schneidend klare Stimmen, archaische Melodiewendungen, asymmetrische Rhythmen, keine Chromatik, eher schon Kirchenton oder Arabisches. Jedenfalls nichts angenehm abendländisch Temperiertes. Oft unisono, dann das Ausscheren in die Sekunde: Mehrstimmigkeit als Lust an der Dissonanz.

Die Frauen nutzten den Luftstrom gänzlich aus, kein bißchen Atem hört man rauschen. Dennoch - und das macht das Unerbittliche des Gesangs - hat der Stimmklang nicht die volle Resonanz. Die Tiefen sind abgeschnitten, die Töne kommen vom Kehlkopf oder aus der Nase, das macht sie so gezwungen, wie erpreßt. Bulgarien - steht im Pressetext ist seit tausend Jahren Spielball zwischen den Mächten, die Geschichte des Landes eine Chronik der Unterdrückungen. Vielleicht ist das die historische Dimension des Obertonspektrums.

Die Erschütterungen kommen von außen. Die Juchzer und Jodler, die kurzen Glissandi und die volkstümlichen Kiekser brechen nicht wirklich aus den meist ostinaten Motiven aus, sind keineswegs impulsive Abweichungen vom oft wie ein Orgelpunkt festgehaltenen Grundton. Das scheinbar Natürliche ist vielmehr etwas Hochartifizielles, stilisiert, aufgepropft: Der Kiekser als Stimm-Manipulation wie die Verzeichnung der Linie bei einer Computergraphik. Deshalb klingt er so ausgelassen und melancholisch zugleich. Pure Maschinenmusik ist's, wenn sie schnell singen. Die Lautstärke wechselt mitunter so plötzlich, als habe einer das Register gewechselt, und mancher Schluß reißt ab, als sei im falschen Moment der Strom abgestellt worden. Der Frauengesang als Orgelmusik, und die Stimmen bilden die Klaviatur.

Nur zwei-, dreimal veirrt sich hierher ein seltsam menschlicher Ton. Ein weicher Einsatz, bevor der Klang sich härtet, ein knappes Zurücknehmen, die Andeutung eines Vibrators, selbstvergessen, wie aus Versehen. Vielleicht macht das die Stimmen so scharf.

Von wegen Volksmusik. Tümlich ist nur das gelegentliche Gedudel der Instrumente. Die sollten sie bei ihrer nächsten Tournee zu Hause lassen.

chp

Le Mystere des voix bulgares:

„A Cathedral Concert“

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Am Donnerstag, 1.September, gastiert der Chor im Westberliner Tempodrom