Den Augen ist nicht zu trauen

Beginn der 45. Filmfestspiele von Venedig / Vor dem Start suchte der taz-Korrespondent die Algen  ■  Aus Venedig Arno Widmann

Algen, Algen, Algen. Jeder fragt nach den blöden Dingern. Ich habe keine gesehen. Dabei stellte ich mir den Flughafen völlig veralgt vor, und Venedig dachte ich mir ganz vergangen von den glitschig grünen Pflanzen. Wahrscheinlich kam ich nur zu spät in die Lagune. Als ich Samstag abend eintraf und von der Piazzale Roma an San Marco vorbei zum Lido gondelte, da hatte ich zunächst nur Augen für die dunkelrot glühende Sonne, die so exakt rund am Himmel hing, als hätte die Göttin Geometria sie höchstpersönlich mit dem Zirkel dort oben angebracht. Dann für den ebenso runden, freilich gelb-kranken Mond. Kein Gedanke an Algen. Im Wasser spiegelten sich die Lichter der Restaurants, die Lampen bei Guggenheim und die Himmelskörper. Algen waren keine zu sehen. Sonntag morgen am Strand - auch keine Algen. Das Meer sah nicht anders aus als im vergangenen Jahr. Es war exakt so wie vor fünf Jahren. Wie es vor zehn Jahren aussah, das weiß ich nicht mehr. Aber schon vor zwanzig Jahren hätte ich wenig Lust gehabt, es Lord Byron nachzutun und von San Marco zum Lido zu schwimmen. Das Nachrichtenmagazin 'Panorama‘ bringt auf der letzten Seite seiner neuesten Ausgabe eine wunderschön-naive Zeichnung von Altan: Zwei beleibte Herren mit bunten Bademützen planschen zwischen Flaschen, Dosen und Scheiße im Meer. Fragt der eine: „Was machen wir nur in diesem Dreck?“ „Damit wir uns nicht so einsam fühlen. Vielleicht“, antwortet der andere. Wir wissen inzwischen: Den wirklich gefährlichen Dreck sieht man nicht. Die Bläue des Wassers, das elegante Sfumato in dem Venedig vom Lido aus liegt, täuschen. Ebenso täuscht sich, wer auf die Katastrophe noch wartet. Sie ist schon da. Während unsere Sinne sich noch freuen am einzigartigen Venedig, haben unsere Instrumente es längst als eine Industriekloake erkannt.

Schade. Solche Instrumente könnte ich jetzt gut brauchen. Mein Urteil über die hier gezeigten Filme hängt ganz und gar von meinen Augen und Ohren ab. Es gibt hier keine Instrumente, die meine unterentwickelten Sinne verstärken könnten. Es gibt eine ganze Industrie, die mir einredet, dieser Film sei großartig und jener ebenso und dieser andere noch besser. Das ist die einzige „Korrektur“, die meine Wahrnehmung erfährt. Ein reichlich ungünstiger Beobachterstandpunkt.

In zwei Stunden beginnen die Filmfestspiele mit Paul Vecchialis Streifen über Aids, dann ein Casanovafilm von Aleksandr Volkov aus dem Jahre 1927 und heute abend Carlo Lizzanis Hommage an Bucharin. Ich freue mich.