Scharfe Auseinandersetzungen in Polens ZK

Harte Kritik und Selbstkritik auf der Sitzung des polnischen Zentralkomitees / Personelle Konsequenzen werden erwartet / Regierung und Solidarnosc ohne Vorbedingungen verhandlungsbereit / Die Streikfront beruhigt sich / Auch der Papst ergreift Partei  ■  Von Barbara Kerneck

Berlin (taz) - Auf einer Sondersitzung des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) kam es am Wochenende zu scharfen Auseinandersetzungen. Die Eröffnung des 230 Personen umfassenden Gremiums wurde ebenso wie spätere Ausschnitte der Diskussion im Fernsehen übertragen. Ministerpräsident Jaruzelski stritt ab, daß es sich bei der Tagung um eine direkte Folge der Streiks handele. „Die Situation ist kompliziert“, erklärte er, „doch haben wir nicht einen Augenblick lang die Kontrolle verloren.“ Jaruzelski rief gleichzeitig zu einer „kühnen Wendung“ auf und kündigte Maßnahmen zur wirtschaftlichen Stabilisierung an. Als einer der schärfsten Kritiker trat auf der Sitzung der Vorsitzende des offiziellen Gewerkschaftsbundes OPZZ, Alfred Miodowicz, auf. Er sprach der Regierung das Mißtrauen der Gewerkschaften aus und erklärte ihre Preis- und Lohnpolitik für gescheitert. Das Ergebnis sei, daß die Streikenden heute bei sehr viel mehr Menschen Verständnis finden als noch bei der letzten Krise im April. Andere Redner bemängelten im Gegenteil, daß man nicht entschieden genug eingeschritten sei. ZK-Sekretär Jozef Cyrek sprach sich für ein neues „polnisches Modell des demokratischen und humanen Sozialismus“ aus und stellte neue Ideen in der Gewerkschaftsfrage in Aussicht. Zugleich verwies er allerdings auf negative Erfahrungen mit der Solidarnosc. Cyrek kündigte ein „Entgegenkommen auf halbem Wege“ an. Konfliktträchtigen Ideen werde man sich aber widersetzen.

Vor Eröffnung der Sitzung war es zu einer Annäherung zwischen Regierung und Solidarnosc gekommen. Während am Freitag die polnischen Bischöfe in einem Hirtenbrief zum Dialog aufgerufen hatten, veröffentlichten Innenminister Kiszak und Arbeiterführer Walesa fast gleichlautende Erklärungen, in denen sie sich zu Verhandlungen ohne Vorbedingungen bereit erklärten. Kiszak schlug ein Gespräch am „runden Tisch“ mit verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen vor, dessen Teilnehmer ZK-Sekretär Cyrek zufolge auch ein neues Programm für die Parlamentswahlen im kommenden Jahr ausarbeiten könnten.

An der Streikfront gab es am Wochenende wenig Veränderungen. Bei Jastrzebie wurde die Grube „3O Jahre Volkspolen“ geräumt, in der Brände ausgebrochen waren und eine Explosion drohte. Fortsetzung auf Seite 2

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Einige Dutzend Bergleute, die sich noch in der Zeche Mosczenica verbarrikadiert hatten, verließen diese nach Gesprächen mit einem Geistlichen. In Stalowa Wola, Stettin und Danzig dauerten die Streiks an. Lech Walesa kehrte am Sonntag vormittag auf die Leninwerft zurück, in deren Umgebung das Polizeiaufgebot verstärkt worden war. Es hieß, Walesa habe sich bei seiner Rückkehr eine kurze Verfolgungsjagd mit einigen Beamten geliefert. Auf der Werft fand am Sonntag vormittag eine Messe statt. Am Freitag nahm auch Papst Johannes Paul II. mit einer grundsätzlichen Kritik am Einparteien-System zu den polnischen Ereignissen Stellung: „In einem Staat kann nicht eine Gruppe oder eine Partei auf Kosten des Volkes oder seiner Rechte die Herrschaft besitzen“, sagte er zu polnischen Pilgern in seiner Sommerresidenz Castelgandolfo.

Bei der Fortsetzung der Sitzung des ZK am Sonntag abend wurden personelle Änderungen nicht ausgeschlossen, Beobachter hielten es für wahrscheinlich, daß zumindest Regierungschef Zbigniew Messner seinen Posten verliert. Nach der Erklärung von Wirtschaftsminister Baka, der am Samstag ein Verbot weiterer Preiserhöhungen abgelehnt hatte, wurde eine Sondersitzung des Parlaments zu Wirtschaftsfragen für den kommenden Donnerstag gefordert. Einige Teilnehmer verlangten die längerfristige Einberufung einer Parteikonfernz, um der sinkenden Autorität der Partei entgegenzuwirken.